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28.11.2003 / Thema / Seite 10

Asien kommt

Wieder Wachstum in den ASEAN-Staaten nach der Krise 1997. Freihandelszone bis 2020 angestrebt. Handel mit China wird verdoppelt

Wolfgang Pomrehn

In Asien stehen die Zeichen auf Aufbruch. Auf der indonesischen Insel Bali, Zentrum eines verblichenen Hinduismus in einem nun muslimischen Land, trafen sich vor Monatsfrist die Staats- und Regierungschefs der Region, um eine weitreichende Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen. Noch sind einige Beobachter skeptisch, doch sollten die Pläne für ein Geflecht verschiedener Freihandelszonen Gestalt annehmen, könnte in den kommenden Jahrzehnten der Schwerpunkt der Weltwirtschaft gründlich verschoben werden.
Dabei ist es erst sechs Jahre her, daß eine schwere Wirtschaftskrise die aufstrebenden Ökonomien Ost- und Südostasiens durchschüttelte und das Ende des rasanten Aufstiegs der Region einzuläuten schien. Für einen Augenblick hielt im Herbst 1997 die Welt den Atem an, denn vieles deutete darauf hin, daß die Implosion der Währungen und Aktienmärkte in Bangkok und Jakarta, Manila und Seoul eine weltweite Wirtschaftskrise auslösen könnte.

Doch die Ansteckung blieb aus. Statt dessen erwies sich bei den ökonomischen Schwergewichten in Europa und Nordamerika die Konjunktur als robust genug, um dem Druck zu widerstehen. Am diesseitigen Ende Eurasiens und vor allem jenseits des Atlantiks half die Euphorie über die New Economy des Internets und der Computerbranche, fürs erste die gefährlichen Klippen zu umschiffen. Zu einer Zeit, als in Asien die Absatzmärkte zusammenbrachen, stimulierte der New-Economy-Boom die Nachfrage in den westlichen Industriestaaten und kurbelte zugleich in Asien die Exportwirtschaft kräftig an. Insbesondere die Chiphersteller in Taiwan, Südkorea und Singapur, die in diesen Ländern zum Teil erhebliches ökonomisches Gewicht haben, konnten vom regen Absatz der Personalcomputer profitieren.

Die Devisen aus dem Export sprudelten reichlich und sorgten dafür, daß die meisten Länder den Kopf schnell wieder aus der Schuldenschlinge des Internationalen Währungsfonds (IWF) ziehen konnten. Dieser war auf dem Höhepunkt der Krise eingesprungen, um Staatsbankrotte abzuwenden, doch hatte der mit den Kreditauflagen des Fonds verbundene Sparkurs die Krise zunächst verschlimmert. Die schnelle Erholung kann sich der IWF also kaum als Erfolg ans Revers heften.

Eher könnte die chinesische Führung für sich beanspruchen, wesentliches zur Begrenzung der Krise beigetragen zu haben. In Peking widerstand man seinerzeit nämlich der Versuchung, den Yuan, die heimische Währung, abzuwerten, um einen Wettbewerbsnachteil auszugleichen, den man durch den Kursverfall in den Nachbarländern mit deren Exportindustrien hatte. Ein solcher Schritt hätte schnell eine katastrophale Abwärtsspirale in Gang setzen können, weshalb asiatische und westliche Regierungen eine nicht unerhebliche Überzeugungsarbeit in Chinas Hauptstadt entfalteten.

Einstige Erzfeinde aufgenommen

Ein gutes halbes Jahrzehnt später verblaßt die Erinnerung daran bereits. Die Wirtschaft der Region hat wieder Tritt gefaßt und setzt zum Sprung nach vorne an. Selbst das zwischenzeitliche Platzen der New-Economy-Blase wurde im wesentlichen gut verkraftet, wenn auch einige kleinere Länder wie Singapur, das sich zu stark von der Halbleiterproduktion abhängig gemacht hatte, erhebliche Einbrüche erlitten. Mit dem weltweiten Rückgang der PC-Nachfrage bewahrheiteten sich die Warnungen vor einer zu einseitigen Ausrichtung auf die Produktion von Computerchips, die vor allem an der Straße von Malakka seit Jahren zu hören waren.

Doch die Gründe für die schnelle Überwindung der Krise weisen zugleich auf eine wichtige Schwachstelle der exportorientierten Volkswirtschaften der Region: Für die meisten Staaten sind Nordamerika und Europa die Hauptabnehmer, der intraregionale Handel spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Das könnte sich ändern, sollte die Wirtschafts-, Kultur- und Sicherheitsgemeinschaft Gestalt annehmen, auf die sich das südostasiatische Staatenbündnis ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) letzten Monat auf Bali geeinigt hat.

Als ausgesprochen antikommunistisches Bündnis war ASEAN 1967 von Indonesien, den Philippinen, Thailand, Singapur und Malaisia gegründet worden. Alles Länder, in denen sich lange Zeit reaktionäre Regime und starke kommunistische Guerillas bekämpften, wenn die Diktatoren nicht, wie in Indonesien, schon im Vorfeld die Kommunistische Partei blutig massakriert hatten. In den 90ern wendete sich ASEAN mehr und mehr Fragen der regionalen Wirtschaftsentwicklung zu und nahm die einstigen Erzfeinde Vietnam, Laos und Kambodscha auf. Brunei war bereits in den 1980er Jahren beigetreten, und mit Myanmar (Burma) wurde 1997 auch der letzte Staat in der Region, der noch außen vor stand, aufgenommen.

Gleichzeitig wurde auch der Grundstein für eine stärkere regionale Integration gelegt, wobei man sich die Europäische Union zum Vorbild nahm. Allerdings sind die Hindernisse auf dem Weg zur südostasiatischen Union ungleich größer, als die Probleme, mit denen die EU zu kämpfen hat. Zwischen einigen Staaten, wie Singapur und Malaysia, gibt es noch immer historisch begründete Animositäten. Der Stadtstaat war 1965 von Malaysia »rausgeworfen«, das heißt, zwangsweise in die Unabhängigkeit entlassen worden. Auch innerhalb ASEAN ist das wirtschaftliche Gefälle noch steiler, als es in der nächstes Jahr vergrößerten EU sein wird, doch ohne daß es in der südostasiatischen Gemeinschaft wirtschaftliche Schwergewichte gäbe, die Strukturfonds zum Abmildern der Ungleichheiten auflegen könnten. Schließlich ähneln sich die politischen Systeme der ASEAN-Mitglieder – sieht man einmal von der Militarisierung der meisten Staaten ab – weit weniger als jene der EU. Der Bogen reicht von der islamischen Monarchie Bruneis über die Militärdiktatur Myanmars bis zu den nominell sozialistischen Regierungen Vietnams und Laos’

Dennoch hat man sich vorgenommen, bis zum Jahre 2020 einen gemeinsamen Markt zu schaffen. Angestrebt wird ein freier Austausch von Waren, Dienstleistungen und Investitionen sowie ein »freierer Fluß« von Kapital. Allein das ist ein ehrgeiziger Anspruch angesichts der großen politischen und ökonomischen Unterschiede innerhalb der Allianz. Von freiem Personenverkehr ist auffälligerweise an keiner Stelle die Rede, was nichts Gutes für die Millionen Arbeitsmigranten in der Region erwarten läßt. Diese – zumeist Indonesier und Philippiner – fristen derzeit in wohlhabenderen Ländern ein weitgehend rechtloses Dasein. In Singapur, wo Mittelstandsfamilien ihre Kinder für ein Butterbrot von philippinischen Haushälterinnen aufziehen lassen, droht jedem, der ohne Aufenthaltserlaubnis aufgegriffen wird, die öffentliche Züchtigung mit dem Stock. Das läßt erahnen, daß der gemeinsame Markt und die verstärkte regionale Zusammenarbeit nicht unbedingt im Interesse der arbeitenden Menschen in Südostasien sein muß, wie ja auch die europäische Integration vor allem in der Wirtschafts- und Geldpolitik dazu genutzt wird, den Druck auf die soziale Lage der Mehrheit der Bevölkerung zu steigern.

In der Bevölkerungszahl ähneln sich EU und ASEAN. Letztere zählt, wie ab Mai nächsten Jahres auch die dann vergrößerte EU, zirka 500 Millionen Einwohner. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von derzeit etwa 700 Milliarden Euro im Jahr fällt der südostasiatische Block allerdings noch weit hinter sein europäische Vorbild zurück. Ebenso ist die wirtschaftliche Verflechtung der ASEAN-Mitglieder weit weniger ausgeprägt als jene der EU. Zwar haben fast alle Mitgliedsländer spätestens seit Beginn der 1990er Jahre eine exportorientierte Wirtschaftspolitik betrieben. Das Gros der Produkte findet Abnehmer in aller Welt, nur nicht in der Region. Der innerregionale Handel hat zwar im letzten Jahrzehnt noch stärker zugenommen als der Außenhandel mit dem Rest der Welt, machte jedoch im Jahre 2000 nur spärliche 23,3 Prozent der gesamten Exporte aus. Hinzu kommt, daß die Volkswirtschaften der Mitgliedsländer weit weniger diversifiziert sind als die europäischen und sich mit ihren wenigen Produkten nicht selten gegenseitig Konkurrenz auf dem Weltmarkt machen.

Zollabbau bis 2008

Entsprechend reagierte mancher Beobachter in der Region eher zurückhaltend auf die neuen Pläne. Schöne Worte, so der Tenor vieler Kommentare, sei man von den ASEAN-Treffen gewohnt, und ob die Berge von Schwierigkeiten auf dem Weg zum gemeinsamen Markt tatsächlich abgetragen werden können, müsse sich noch zeigen. Allerdings hat die neue Gemeinschaft einen Vorläufer in der ASEAN-Freihandelszone, der AFTA (Asian Free Trade Area), die bis 2004 eingerichtet sein soll. Im Rahmen AFTAs werden die Zölle auf nahezu alle Waren drastisch reduziert und Einfuhrbeschränkungen ganz abgeschafft. Das Projekt war bereits 1992 gestartet worden, und bis zum Jahre 2008 soll der Zollabbau erreicht sein, wobei Länder wie Laos und Vietnam längere Übergangsfristen zugestanden bekamen. Für die entwickelteren Länder wurde jedoch unter dem Eindruck der Asien-Krise zwischenzeitlich das Tempo erhöht. Die fünf ASEAN-Gründungsmitglieder haben inzwischen die meisten Bedingungen erfüllt, und auf Bali einigte man sich unter anderem auch darauf, die Listen mit Ausnahmen für bestimmte als strategisch wichtig angesehene Güter schleunigst zu durchforsten und zusammenzustreichen.

Die neue Wirtschaftsgemeinschaft soll nun auf dieser Freihandelszone aufbauen und die Zusammenarbeit weiter institutionalisieren. Wichtigstes Gremium der Integration wird die Konferenz der Wirtschaftsminister werden. Darüber hinaus wird der bereits existierende Streitschlichtungsmechanismus ausgebaut, wofür in Bali umfangreiche Vereinbarungen getroffen wurden. Die Entscheidungen werden auf den Ministerkonferenzen auch künftig im Konsens getroffen, was ASEAN sicherlich im Vergleich zur EU schwerfälliger macht, aber bei der Vielzahl konkurrierender Anschauungen und Interessen wohl kaum anders möglich ist. Bis Ende nächsten Jahres sollen alle Institutionen eingerichtet sein, um die Umsetzung der Vereinbarungen zu kontrollieren.

Parallel zum Zusammenwachsen der ASEAN-Staaten und durch dieses zum Teil stimuliert, schreitet auch die ökonomische Integration unter ihren Nachbarn schnell voran. Seit einigen Jahren lädt man jährlich zu sogenannten ASEAN-plus-drei-Treffen ein, das heißt, zu den ASEAN-Gipfeln gesellen sich regelmäßig auch die Staats- und Regierungschefs aus China, Südkorea und Japan hinzu und nutzen die Gelegenheit, sowohl die Kooperation untereinander als auch mit der ASEAN voranzutreiben. Zwischen der südostasiatischen Gemeinschaft und Peking war bereits vor einem Jahr ein Freihandelsabkommen abgeschlossen worden, das zum 1. Januar 2011 in Kraft treten wird.

China – ansteckende Dynamik

Der Hintergrund dafür ist, daß der große, oftmals als übermächtig empfundene Nachbar im Norden für die ASEAN-Staaten zunehmend an ökonomischer Bedeutung gewinnt. Zwischen 1997 und 2001 haben sich ihre Exporte nach China verdreifacht. Nirgendwo sonst wächst der Appetit auf die Produkte Südostasiens so schnell wie im Land der Mitte, auch wenn die USA, EU und Japan noch immer wichtigste Abnehmer von Waren aus der Region sind. Aber je nach wirtschaftlicher Entwicklung könnte China demnächst Japan in der Bedeutung als Abnehmer für ASEAN-Waren überrunden. In der Abschlußerklärung der ASEAN in Bali hieß es, man strebe für den Handel mit China bis 2005 ein Volumen von 100 Milliarden US-Dollar im Jahr an, was gegenüber 2001 eine weitere Verdoppelung bedeuten würde.

Ähnlich rosig sieht man die Entwicklung bei der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) in Manila. Eine Woche vor dem Bali-Gipfel hatte sie in ihrem Jahresausblick erklärt, die Volksrepublik sei in den letzten zwei Jahren einer der wichtigsten Wachstumsmotoren des Welthandels gewesen. Und dieser Trend scheint sich 2003 noch zu beschleunigen: In der ersten Jahreshälfte haben Chinas Importe aus Süd-, Südost- und Ostasien erneut drastisch zugenommen, so ADB-Sprecher Ifzal Ali. Das Land habe »die USA bereits für Staaten wie Südkorea als wichtigster Exportmarkt überholt«. Sollte der innerasiatische Handel weiter so schnell wachsen, dann würden die dortigen Volkswirtschaften mittelfristig weniger abhängig von den Konjunkturzyklen der industrialisierten Länder. Jüngste Daten zeigen, daß Dreiviertel des Wachstums der japanischen Exporte auf Chinas Konto gingen, in Taiwan waren es gar 99 Prozent und in Südkorea immerhin 40 Prozent.

Zusätzliche Impulse könnte diese Entwicklung bekommen, wenn die verschiedenen Freihandelszonen, die in der Region in der Vorbereitung sind, Gestalt annehmen. Südkorea, Japan und China haben sich schon 2002 darauf verständigt, ein ostasiatisches Freihandelsabkommen zu prüfen. In Bali einigten sich die drei auf die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission, die die wirtschaftliche und politische Kooperation in Ostasien stärken soll. Konkrete Gespräche über ein Abkommen werden allerdings noch etwas auf sich warten lassen.

Da sind Indien und die ASEAN bereits weiter. In Bali, wohin man erstmalig auch den indischen Premier Atal Bihari Vajpayee eingeladen hatte, unterzeichneten sie einen Vertrag über den freien Austausch von Waren. Auch zwischen den beiden Schwergewichten Indien und China hat sich in den letzten Jahren der Handel stürmisch entwickelt, und der jüngste Besuch Vajpayees in Peking zeigte, daß man in den beiden Hauptstädten entschlossen ist, die Zusammenarbeit auszubauen. Alte Konflikte und vor allem Grenzstreitigkeiten sind damit noch nicht aus der Welt geschafft, aber zumindest gibt es erste Ansätze, sie zu lösen. Hilfreich wird sicherlich sein, daß die beiden Staaten in Bali dem ASEAN-Freundschaftsvertrag beitraten, womit sie sich unter anderem verpflichten, im Falle etwaiger Streitigkeiten auf militärische Gewalt zu verzichten und nach friedlichen Wegen der Konfliktlösung zu suchen.

Seitens der ASEAN-Chefs war man erleichtert, daß China diesen Schritt tat, für den sie lange geworben hatten. Bereits im letzten Jahr hatte Peking eine ähnliche Erklärung speziell für das Südchinesische Meer unterschrieben. Dort liegen die umstrittenen Spratly-Inseln, die von allen Anrainerstaaten beansprucht werden. In den vergangenen Jahrzehnten hatte das wiederholt zu Spannungen zwischen der Volksrepublik und anderen Staaten geführt.

Während der Abbau militärischer Spannungen der Bevölkerung zugute kommt, ist das im Falle der Öffnung der Märkte und des ökonomischen Zusammenwachsens nicht automatisch zu erwarten. Für viele kleine Produzenten und Bauern dürften die regionale Liberalisierung des Handels die Bedingungen eher verschlechtern, weshalb es in Südkorea und auf den Philippinen erheblichen Widerstand gegen die Freihandelsabkommen gibt, die die Preise landwirtschaftlicher Produkte nach unten zu drücken drohen. Entsprechend hatten sich koreanische Bauern in diesem Jahr an vorderster Front an den Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Mexiko beteiligt.

In Asien sind neue soziale Verwerfungen absehbar, und die verschiedenen in Bali getroffenen Verabredungen über eine »nicht-traditionelle« Sicherheitspolitik, die sich vor allem gegen Piraten und islamische Extremisten richten wird, läßt erwarten, daß man sozialen Protest ähnlich wie in Europa auch in Asien gemeinsam bekämpfen will.