In Asien stehen die Zeichen auf Aufbruch. Auf der indonesischen
Insel Bali, Zentrum eines verblichenen Hinduismus in einem nun
muslimischen Land, trafen sich vor Monatsfrist die Staats- und
Regierungschefs der Region, um eine weitreichende Zusammenarbeit auf
den Weg zu bringen. Noch sind einige Beobachter skeptisch, doch sollten
die Pläne für ein Geflecht verschiedener Freihandelszonen
Gestalt
annehmen, könnte in den kommenden Jahrzehnten der Schwerpunkt der
Weltwirtschaft gründlich verschoben werden.
Dabei ist es erst sechs Jahre her, daß eine schwere
Wirtschaftskrise
die aufstrebenden Ökonomien Ost- und Südostasiens
durchschüttelte und
das Ende des rasanten Aufstiegs der Region einzuläuten schien.
Für
einen Augenblick hielt im Herbst 1997 die Welt den Atem an, denn vieles
deutete darauf hin, daß die Implosion der Währungen und
Aktienmärkte in
Bangkok und Jakarta, Manila und Seoul eine weltweite Wirtschaftskrise
auslösen könnte.
Doch die Ansteckung blieb aus. Statt dessen erwies sich bei den
ökonomischen Schwergewichten in Europa und Nordamerika die
Konjunktur
als robust genug, um dem Druck zu widerstehen. Am diesseitigen Ende
Eurasiens und vor allem jenseits des Atlantiks half die Euphorie
über
die New Economy des Internets und der Computerbranche, fürs erste
die
gefährlichen Klippen zu umschiffen. Zu einer Zeit, als in Asien
die
Absatzmärkte zusammenbrachen, stimulierte der New-Economy-Boom die
Nachfrage in den westlichen Industriestaaten und kurbelte zugleich in
Asien die Exportwirtschaft kräftig an. Insbesondere die
Chiphersteller
in Taiwan, Südkorea und Singapur, die in diesen Ländern zum
Teil
erhebliches ökonomisches Gewicht haben, konnten vom regen Absatz
der
Personalcomputer profitieren.
Die Devisen aus dem Export sprudelten reichlich und sorgten dafür,
daß
die meisten Länder den Kopf schnell wieder aus der
Schuldenschlinge des
Internationalen Währungsfonds (IWF) ziehen konnten. Dieser war auf
dem
Höhepunkt der Krise eingesprungen, um Staatsbankrotte abzuwenden,
doch
hatte der mit den Kreditauflagen des Fonds verbundene Sparkurs die
Krise zunächst verschlimmert. Die schnelle Erholung kann sich der
IWF
also kaum als Erfolg ans Revers heften.
Eher könnte die chinesische Führung für sich
beanspruchen, wesentliches
zur Begrenzung der Krise beigetragen zu haben. In Peking widerstand man
seinerzeit nämlich der Versuchung, den Yuan, die heimische
Währung,
abzuwerten, um einen Wettbewerbsnachteil auszugleichen, den man durch
den Kursverfall in den Nachbarländern mit deren Exportindustrien
hatte.
Ein solcher Schritt hätte schnell eine katastrophale
Abwärtsspirale in
Gang setzen können, weshalb asiatische und westliche Regierungen
eine
nicht unerhebliche Überzeugungsarbeit in Chinas Hauptstadt
entfalteten.
Ein gutes halbes Jahrzehnt später verblaßt die Erinnerung
daran
bereits. Die Wirtschaft der Region hat wieder Tritt gefaßt und
setzt
zum Sprung nach vorne an. Selbst das zwischenzeitliche Platzen der
New-Economy-Blase wurde im wesentlichen gut verkraftet, wenn auch
einige kleinere Länder wie Singapur, das sich zu stark von der
Halbleiterproduktion abhängig gemacht hatte, erhebliche
Einbrüche
erlitten. Mit dem weltweiten Rückgang der PC-Nachfrage
bewahrheiteten
sich die Warnungen vor einer zu einseitigen Ausrichtung auf die
Produktion von Computerchips, die vor allem an der Straße von
Malakka
seit Jahren zu hören waren.
Doch die Gründe für die schnelle Überwindung der Krise
weisen zugleich
auf eine wichtige Schwachstelle der exportorientierten
Volkswirtschaften der Region: Für die meisten Staaten sind
Nordamerika
und Europa die Hauptabnehmer, der intraregionale Handel spielt
demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Das könnte sich
ändern,
sollte die Wirtschafts-, Kultur- und Sicherheitsgemeinschaft Gestalt
annehmen, auf die sich das südostasiatische Staatenbündnis ASEAN (Association of Southeast Asian Nations)
letzten Monat auf Bali geeinigt hat.
Als ausgesprochen antikommunistisches Bündnis war ASEAN
1967 von Indonesien, den Philippinen, Thailand, Singapur und Malaisia
gegründet worden. Alles Länder, in denen sich lange Zeit
reaktionäre
Regime und starke kommunistische Guerillas bekämpften, wenn die
Diktatoren nicht, wie in Indonesien, schon im Vorfeld die
Kommunistische Partei blutig massakriert hatten. In den 90ern wendete
sich ASEAN mehr und mehr Fragen der
regionalen Wirtschaftsentwicklung zu und nahm die einstigen Erzfeinde
Vietnam, Laos und Kambodscha auf. Brunei war bereits in den 1980er
Jahren beigetreten, und mit Myanmar (Burma) wurde 1997 auch der letzte
Staat in der Region, der noch außen vor stand, aufgenommen.
Gleichzeitig wurde auch der Grundstein für eine stärkere
regionale
Integration gelegt, wobei man sich die Europäische Union zum
Vorbild
nahm. Allerdings sind die Hindernisse auf dem Weg zur
südostasiatischen
Union ungleich größer, als die Probleme, mit denen die EU zu
kämpfen
hat. Zwischen einigen Staaten, wie Singapur und Malaysia, gibt es noch
immer historisch begründete Animositäten. Der Stadtstaat war
1965 von
Malaysia »rausgeworfen«, das heißt, zwangsweise in
die Unabhängigkeit
entlassen worden. Auch innerhalb ASEAN
ist das wirtschaftliche Gefälle noch steiler, als es in der
nächstes
Jahr vergrößerten EU sein wird, doch ohne daß es in
der
südostasiatischen Gemeinschaft wirtschaftliche Schwergewichte
gäbe, die
Strukturfonds zum Abmildern der Ungleichheiten auflegen könnten.
Schließlich ähneln sich die politischen Systeme der ASEAN-Mitglieder
– sieht man einmal von der Militarisierung der meisten Staaten ab
–
weit weniger als jene der EU. Der Bogen reicht von der islamischen
Monarchie Bruneis über die Militärdiktatur Myanmars bis zu
den nominell
sozialistischen Regierungen Vietnams und Laos’
Dennoch hat man sich vorgenommen, bis zum Jahre 2020 einen gemeinsamen
Markt zu schaffen. Angestrebt wird ein freier Austausch von Waren,
Dienstleistungen und Investitionen sowie ein »freierer
Fluß« von
Kapital. Allein das ist ein ehrgeiziger Anspruch angesichts der
großen
politischen und ökonomischen Unterschiede innerhalb der Allianz.
Von
freiem Personenverkehr ist auffälligerweise an keiner Stelle die
Rede,
was nichts Gutes für die Millionen Arbeitsmigranten in der Region
erwarten läßt. Diese – zumeist Indonesier und
Philippiner – fristen
derzeit in wohlhabenderen Ländern ein weitgehend rechtloses
Dasein. In
Singapur, wo Mittelstandsfamilien ihre Kinder für ein Butterbrot
von
philippinischen Haushälterinnen aufziehen lassen, droht jedem, der
ohne
Aufenthaltserlaubnis aufgegriffen wird, die öffentliche
Züchtigung mit
dem Stock. Das läßt erahnen, daß der gemeinsame Markt
und die
verstärkte regionale Zusammenarbeit nicht unbedingt im Interesse
der
arbeitenden Menschen in Südostasien sein muß, wie ja auch
die
europäische Integration vor allem in der Wirtschafts- und
Geldpolitik
dazu genutzt wird, den Druck auf die soziale Lage der Mehrheit der
Bevölkerung zu steigern.
In der Bevölkerungszahl ähneln sich EU und ASEAN.
Letztere zählt, wie ab Mai nächsten Jahres auch die dann
vergrößerte
EU, zirka 500 Millionen Einwohner. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von
derzeit etwa 700 Milliarden Euro im Jahr fällt der
südostasiatische
Block allerdings noch weit hinter sein europäische Vorbild
zurück.
Ebenso ist die wirtschaftliche Verflechtung der ASEAN-Mitglieder
weit weniger ausgeprägt als jene der EU. Zwar haben fast alle
Mitgliedsländer spätestens seit Beginn der 1990er Jahre eine
exportorientierte Wirtschaftspolitik betrieben. Das Gros der Produkte
findet Abnehmer in aller Welt, nur nicht in der Region. Der
innerregionale Handel hat zwar im letzten Jahrzehnt noch stärker
zugenommen als der Außenhandel mit dem Rest der Welt, machte
jedoch im
Jahre 2000 nur spärliche 23,3 Prozent der gesamten Exporte aus.
Hinzu
kommt, daß die Volkswirtschaften der Mitgliedsländer weit
weniger
diversifiziert sind als die europäischen und sich mit ihren
wenigen
Produkten nicht selten gegenseitig Konkurrenz auf dem Weltmarkt machen.
Entsprechend reagierte mancher Beobachter in der Region eher
zurückhaltend auf die neuen Pläne. Schöne Worte, so der
Tenor vieler
Kommentare, sei man von den ASEAN-Treffen
gewohnt, und ob die Berge von Schwierigkeiten auf dem Weg zum
gemeinsamen Markt tatsächlich abgetragen werden können,
müsse sich noch
zeigen. Allerdings hat die neue Gemeinschaft einen Vorläufer in
der ASEAN-Freihandelszone,
der AFTA (Asian Free Trade Area), die bis 2004 eingerichtet sein soll.
Im Rahmen AFTAs werden die Zölle auf nahezu alle Waren drastisch
reduziert und Einfuhrbeschränkungen ganz abgeschafft. Das Projekt
war
bereits 1992 gestartet worden, und bis zum Jahre 2008 soll der
Zollabbau erreicht sein, wobei Länder wie Laos und Vietnam
längere
Übergangsfristen zugestanden bekamen. Für die entwickelteren
Länder
wurde jedoch unter dem Eindruck der Asien-Krise zwischenzeitlich das
Tempo erhöht. Die fünf ASEAN-Gründungsmitglieder
haben inzwischen die meisten Bedingungen erfüllt, und auf Bali
einigte
man sich unter anderem auch darauf, die Listen mit Ausnahmen für
bestimmte als strategisch wichtig angesehene Güter schleunigst zu
durchforsten und zusammenzustreichen.
Die neue Wirtschaftsgemeinschaft soll nun auf dieser Freihandelszone
aufbauen und die Zusammenarbeit weiter institutionalisieren.
Wichtigstes Gremium der Integration wird die Konferenz der
Wirtschaftsminister werden. Darüber hinaus wird der bereits
existierende Streitschlichtungsmechanismus ausgebaut, wofür in
Bali
umfangreiche Vereinbarungen getroffen wurden. Die Entscheidungen werden
auf den Ministerkonferenzen auch künftig im Konsens getroffen, was
ASEAN
sicherlich im Vergleich zur EU schwerfälliger macht, aber bei der
Vielzahl konkurrierender Anschauungen und Interessen wohl kaum anders
möglich ist. Bis Ende nächsten Jahres sollen alle
Institutionen
eingerichtet sein, um die Umsetzung der Vereinbarungen zu kontrollieren.
Parallel zum Zusammenwachsen der ASEAN-Staaten
und durch dieses zum Teil stimuliert, schreitet auch die
ökonomische
Integration unter ihren Nachbarn schnell voran. Seit einigen Jahren
lädt man jährlich zu sogenannten ASEAN-plus-drei-Treffen
ein, das heißt, zu den ASEAN-Gipfeln
gesellen sich regelmäßig auch die Staats- und
Regierungschefs aus
China, Südkorea und Japan hinzu und nutzen die Gelegenheit, sowohl
die
Kooperation untereinander als auch mit der ASEAN
voranzutreiben. Zwischen der südostasiatischen Gemeinschaft und
Peking
war bereits vor einem Jahr ein Freihandelsabkommen abgeschlossen
worden, das zum 1. Januar 2011 in Kraft treten wird.
Der Hintergrund dafür ist, daß der große, oftmals
als übermächtig empfundene Nachbar im Norden für die ASEAN-Staaten
zunehmend an ökonomischer Bedeutung gewinnt. Zwischen 1997 und
2001
haben sich ihre Exporte nach China verdreifacht. Nirgendwo sonst
wächst
der Appetit auf die Produkte Südostasiens so schnell wie im Land
der
Mitte, auch wenn die USA, EU und Japan noch immer wichtigste Abnehmer
von Waren aus der Region sind. Aber je nach wirtschaftlicher
Entwicklung könnte China demnächst Japan in der Bedeutung als
Abnehmer
für ASEAN-Waren überrunden. In der
Abschlußerklärung der ASEAN
in Bali hieß es, man strebe für den Handel mit China bis
2005 ein
Volumen von 100 Milliarden US-Dollar im Jahr an, was gegenüber
2001
eine weitere Verdoppelung bedeuten würde.
Ähnlich rosig sieht man die Entwicklung bei der Asiatischen
Entwicklungsbank (ADB) in Manila. Eine Woche vor dem Bali-Gipfel hatte
sie in ihrem Jahresausblick erklärt, die Volksrepublik sei in den
letzten zwei Jahren einer der wichtigsten Wachstumsmotoren des
Welthandels gewesen. Und dieser Trend scheint sich 2003 noch zu
beschleunigen: In der ersten Jahreshälfte haben Chinas Importe aus
Süd-, Südost- und Ostasien erneut drastisch zugenommen, so
ADB-Sprecher
Ifzal Ali. Das Land habe »die USA bereits für Staaten wie
Südkorea als
wichtigster Exportmarkt überholt«. Sollte der
innerasiatische Handel
weiter so schnell wachsen, dann würden die dortigen
Volkswirtschaften
mittelfristig weniger abhängig von den Konjunkturzyklen der
industrialisierten Länder. Jüngste Daten zeigen, daß
Dreiviertel des
Wachstums der japanischen Exporte auf Chinas Konto gingen, in Taiwan
waren es gar 99 Prozent und in Südkorea immerhin 40 Prozent.
Zusätzliche Impulse könnte diese Entwicklung bekommen, wenn
die
verschiedenen Freihandelszonen, die in der Region in der Vorbereitung
sind, Gestalt annehmen. Südkorea, Japan und China haben sich schon
2002
darauf verständigt, ein ostasiatisches Freihandelsabkommen zu
prüfen.
In Bali einigten sich die drei auf die Einrichtung einer gemeinsamen
Kommission, die die wirtschaftliche und politische Kooperation in
Ostasien stärken soll. Konkrete Gespräche über ein
Abkommen werden
allerdings noch etwas auf sich warten lassen.
Da sind Indien und die ASEAN bereits
weiter. In Bali, wohin man erstmalig auch den indischen Premier Atal
Bihari Vajpayee eingeladen hatte, unterzeichneten sie einen Vertrag
über den freien Austausch von Waren. Auch zwischen den beiden
Schwergewichten Indien und China hat sich in den letzten Jahren der
Handel stürmisch entwickelt, und der jüngste Besuch Vajpayees
in Peking
zeigte, daß man in den beiden Hauptstädten entschlossen ist,
die
Zusammenarbeit auszubauen. Alte Konflikte und vor allem
Grenzstreitigkeiten sind damit noch nicht aus der Welt geschafft, aber
zumindest gibt es erste Ansätze, sie zu lösen. Hilfreich wird
sicherlich sein, daß die beiden Staaten in Bali dem ASEAN-Freundschaftsvertrag
beitraten, womit sie sich unter anderem verpflichten, im Falle etwaiger
Streitigkeiten auf militärische Gewalt zu verzichten und nach
friedlichen Wegen der Konfliktlösung zu suchen.
Seitens der ASEAN-Chefs war man
erleichtert, daß China diesen Schritt tat, für den sie lange
geworben
hatten. Bereits im letzten Jahr hatte Peking eine ähnliche
Erklärung
speziell für das Südchinesische Meer unterschrieben. Dort
liegen die
umstrittenen Spratly-Inseln, die von allen Anrainerstaaten beansprucht
werden. In den vergangenen Jahrzehnten hatte das wiederholt zu
Spannungen zwischen der Volksrepublik und anderen Staaten geführt.
Während der Abbau militärischer Spannungen der
Bevölkerung zugute
kommt, ist das im Falle der Öffnung der Märkte und des
ökonomischen
Zusammenwachsens nicht automatisch zu erwarten. Für viele kleine
Produzenten und Bauern dürften die regionale Liberalisierung des
Handels die Bedingungen eher verschlechtern, weshalb es in
Südkorea und
auf den Philippinen erheblichen Widerstand gegen die
Freihandelsabkommen gibt, die die Preise landwirtschaftlicher Produkte
nach unten zu drücken drohen. Entsprechend hatten sich koreanische
Bauern in diesem Jahr an vorderster Front an den Protesten gegen die
Welthandelsorganisation in Mexiko beteiligt.
In Asien sind neue soziale Verwerfungen absehbar, und die verschiedenen
in Bali getroffenen Verabredungen über eine
»nicht-traditionelle«
Sicherheitspolitik, die sich vor allem gegen Piraten und islamische
Extremisten richten wird, läßt erwarten, daß man
sozialen Protest
ähnlich wie in Europa auch in Asien gemeinsam bekämpfen will.