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jW, 09.09.2006 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

»Abschottung wird zum europäischen Konzept«

Gespräch mit Günter Burkhardt.

Über 20 Jahre Lobbyarbeit für Flüchtlinge, neue Mauern an den EU-Außengrenzen, unsichere Drittstaaten und die unsägliche Kettenduldung in Deutschland


Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von Pro Asyl. Die Lobby-Organisation für Flüchtlinge hat am 8.September ihr 20jähriges Bestehen gefeiert. Der Verein wurde 1986 als Bündnis von Personen aus dem Bereich der Kirchen, Flüchtlingsinitiativen, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen gegründet. Das Ziel war, für faire Asylverfahren und für den Schutz von Flüchtlingen einzutreten. Seit 1989 gibt es einen Förderverein mit inzwischen mehr als 13000 Mitgliedern, der die Arbeit von PRO ASYL finanziert und ihr damit die politische Unabhängigkeit sichert.


Spätsommer und Herbst 1986, das war die Zeit nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. In der BRD bereiteten für wenige Monate sehr aktive soziale Bewegungen der Regierung Helmut Kohl ernsthafte Probleme. Das war aber auch die Zeit einer ersten großen Asylhysterie, auf deren Höhepunkt Johannes Rau, damals Kanzlerkandidat der SPD, gemeinsam mit Erich Honecker, dem Generalsekretär der SED, das »Loch in der Berliner Mauer« stopfte, durch das Flüchtlinge nach Westberlin einreisten. Was gab damals den Ausschlag, Pro Asyl zu gründen?
Bereits über einige Jahre hinweg waren Flüchtlinge in der Öffentlichkeit als »Scheinasylanten« diffamiert worden. Die Zahl der Flüchtlinge nahm – unter anderem in Folge des Militärputsches in der Türkei 1980 – ständig zu, und das Thema schaukelte sich über die Jahre hoch. Vor allem in den Wahlkämpfen wurde es immer wieder zur Erzeugung fremdenfeindlicher Stimmung mißbraucht. Es gab verstärkte Versuche, die Bundesrepublik abzuschotten. Ich denke an die Ausweitung des Visumzwangs, die Senkung der Anerkennungsquoten nach politisch-rechtlichen Vorgaben und die Lagerunterbringung. Gemeinsam mit dem SED-Regime den Fluchtweg über Berlin zu versperren war der Sündenfall. In dieser Situation bekam Pro Asyl schnell die Rolle eines Mahners. Aber es gab durchaus auch eine breite Öffentlichkeit, die spürte, daß die Entwicklung in eine gefährliche Richtung ging und daß es eine Stimme brauchte, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzte.

Trotzdem hat sich nach 1986 das Klima für die Flüchtlinge schnell verschlechtert. Insbesondere Anfang der 1990er Jahre kam es zu gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsheime. Das Ganze kulminierte schließlich im sogenannten Asylkompromiß.

In diese Zeit fiel der Beginn des Krieges auf dem Balkan, und viele Menschen suchten bei uns Schutz. Das war ganz normal, denn der Krieg war vor unserer Haustür. Außerdem lebten in der alten Bundesrepublik bereits viele Immigranten aus Jugoslawien. Daß die Menschen dort Schutz suchten, wo es schon Bekannte und Verwandte gab, war naheliegend. Die hohen Flüchtlingszahlen wurden aber für ein Klima der Ausgrenzung und für die Mobilisierung rassistischer Stimmungen genutzt, um bei Wahlen zu punkten. Das war die Ausgangslage, die dazu führte, daß 1992/1993 die SPD einknickte und der faktischen Abschaffung des Asylrechts zustimmte. SPD und CDU/CSU verständigten sich am 6. Dezember 1992 darauf, den Artikel 16 Grundgesetz, der das Grundrecht auf Asyl regelte, zu verändern. Bisher hatte es dort geheißen: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieser schlichte Satz hatte das Asylrecht zu einem einklagbaren Grundrecht gemacht. Er war eine der Lehren aus dem deutschen Faschismus gewesen, der Hunderttausende Deutsche und Menschen aus anderen Staaten zu Flüchtlingen im Ausland gemacht hatte. Nun sollte ein Artikel 16a eingefügt werden, der dieses Recht weitgehend relativierte. Die Änderung wurde im Mai 1993 vom Bundestag beschlossen.

War es nicht besonders frustrierend für Sie, daß ausgerechnet die schleswig-holsteinische SPD, die über Jahrzehnte zum linken Parteiflügel gezählt hatte und bis dahin verläßlicher Verbündeter aller Verteidiger des Grundrechts auf Asyl war, in der Person des damaligen SPD-Vorsitzenden Björn Engholm für den Dammbruch sorgte?

Es war nicht nur Engholm, sondern auch Oskar Lafontaine, der damals in populistischer Manier für eine Änderung des Grundgesetzes eintrat. Und an dieser Haltung Lafontaines hat sich offenbar nicht viel geändert, wenn ich an seine Äußerungen während des letzten Bundestagswahlkampfes denke. Die Rechten, auch Teile der CDU, hatten seinerzeit die Stimmung angeheizt, und die Sorge vieler Sozialdemokraten war: Die graben uns das Wasser ab, also schwenken wir um, machen eine andere Politik. Je stärker wir uns nach rechts profilieren, desto weniger Stimmen bekommen unsere Konkurrenten.

Auch in den letzten Jahren haben sich Sozialdemokraten des öfteren als Vorreiter weiterer Verschärfungen hervorgetan. Heute schotten sich die Länder der EU ab, und der seinerzeitige Bundesinnenminister Otto Schily (1998 bis 2005) war einer der ersten, der Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika gefordert hat.

Ja, Abschottung wird zu einem europäi­schen Konzept. Am 1. Dezember 2005 haben die EU-Regierungen die sogenannte Asylverfahren-Richtlinie beschlossen, die es ermöglichen wird, europäische Drittstaatenregelungen zu verabschieden. Das heißt, nach der Schließung des Lochs in der Mauer 1986 und der Schließung der deutschen Grenzen durch die deutsche Drittstaatenregelung 1993 versucht sich nun ein ganzer Kontinent abzuschotten. Flüchtlingen, die über einen Staat einreisen, der selbst als sicher gilt, wird nun gesagt, sie könnten ja auch in diesem Schutz suchen. Dann braucht man nur noch alle Nachbarstaaten als sicher definieren, und schon kann kein Flüchtling mehr auf legalem Wege nach Europa gelangen. Tatsächlich sind natürlich diese angeblich sicheren Drittstaaten alles andere als sicher. Zum Beispiel hat Italien mehrfach Menschen unter Bruch des Völkerrechts nach Libyen abgeschoben. Dieses Land hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, und Flüchtlinge werden von dort in ihre Heimatländer abgeschoben. Es gibt immer wieder Berichte, daß Flüchtlinge in der Wüste ausgesetzt oder Inhaftiert werden, wie wir es zum Beispiel aus Marokko wissen. Auch aus der Ukraine ist bekannt, daß von dort in die Herkunftsländer abgeschoben wird. Trotzdem schieben EU-Staaten ohne Asylprüfung in die Ukraine ab. Bisher gibt es dafür keine Rechtsgrundlage, die Drittstaatenregelung ist noch nicht umgesetzt. Aber man arbeitet eifrig daran.

Verschlecheterungen für Flüchtlinge hat auch die EU-Osterweiterung mit sich gebracht. Für viele Osteuropäer, vor allem für Tschetschenen, hat Polen bisher als Transitland gedient. Um nicht gleich an der Grenze abgewiesen zu werden, mußten sie dort Asyl beantragen, konnten aber weiter in den Westen, in ihre eigentlichen Zielländer, reisen und erneut Asyl beantragen. Diese Möglichkeit ist nun verbaut.

Ja. Das Asylsystem in Europa ist unsolidarisch. Die alten, reicheren EU-Staaten haben vor dem Beitritt der neuen Mitglieder die sogenannten Dublin-Vereinbarungen beschlossen. Die sehen vor, daß innerhalb der EU nur einmal Asyl beantragt werden kann. Zuständig ist in der Regel das Land, das die Flüchtlinge einreisen ließ. In der Praxis sind dies die osteuropäischen Grenzstaaten sowie Malta, Italien, Spanien und Griechenland. Besonders für die osteuropäischen Staaten ist das ein Problem, da diese über wesentlich weniger Mittel als die anderen Mitglieder verfügen und die Flüchtlinge kaum versorgen können. Wir fordern daher, daß die Zuständigkeitsregelung von Grund auf neu konzipiert wird. Es ist unglaublich unsolidarisch, daß die reichen Staaten im Zentrum Europas sich ihrer Verantwortung entledigen.

Denken Sie an eine Art Umverteilung, wie sie in der BRD üblich ist?

Da hätten Sie ein Bürokratiemonster. Es sollte weiter der Staat zuständig sein, in dem der Flüchtling einen Asylantrag stellt. Aber man müßte über einen finanziellen Ausgleich zwischen den Staaten sprechen. Allerdings sind Flüchtlinge nicht nur eine Belastung. Man sollte also nicht den diskriminierenden Begriff des Burden-sharing verwenden, sondern von einer Teilung der Verantwortung sprechen.

Derzeit ist allerdings das Gegenteil der Fall. Ganze Familien, deren Kinder oft schon hier aufgewachsen oder gar geboren sind, bangen von Monat zu Monat oder von Halbjahr zu Halbjahr, daß sie vielleicht bald ausgewiesen werden. Pro Asyl wirbt gemeinsam mit anderen für eine Bleiberechtsregelung für diese »Geduldeten«.

Es gibt etwa 200000 Menschen, die in Deutschland mit einer Duldung leben. Das ist ein prekärer Status. Meist wird die Duldung auf wenige Monate befristet. Über 130000 Menschen leben mit sogenannten Kettenduldungen schon über fünf Jahre unter diesen Bedingungen. Der Grund ist meist, daß kein Asylrecht gewährt wurde, aber aus den verschiedensten Gründen nicht abgeschoben werden kann. Das kann zum Beispiel daran liegen, daß im Heimatland Krieg herrscht oder es mit dem Land kein Rücknahmeabkommen gibt.
In jüngster Zeit gibt es Anzeichen für einen kleinen Kurswechsel. Öffentliche Äußerungen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und anderen signalisieren Offenheit gegenüber einer Bleiberechtsregelung für diese Gruppe. Wir befürchten jedoch, daß die Bedingungen so streng sein werden, daß nur wenige Flüchtlinge sie erfüllen können. Wir brauchen nicht nur ein Bleiberecht für Familien, deren Kinder zur Schule gehen, wir brauchen eine großzügige Regelung, so daß ein Geburtsfehler des Zuwanderungsgesetzes behoben wird. Seinerzeit war die Beendigung der Kettenduldungen versprochen worden. Geschehen ist allerdings nichts. Entweder muß es eine Änderung des Gesetzes oder einen entsprechenden Beschluß der Innenminister des Bundes und der Länder geben. Derzeit mehren sich die Stimmen von Innenministern, die für eine harte und sehr restriktive Regelung plädieren, die am eigentlichen Problem nichts ändern würde. Hinzu kommt, daß seit einigen Monaten im ganzen Bundesgebiet in vielen Kreisen und Städten die Ausländerbehörden offenbar versuchen, möglichst viele der Geduldeten abzuschieben, bevor es zu einer Bleiberechtsregelung kommt.

Eine andere Abschiebewelle rollt derzeit auf Füchtlinge zu, deren Asylanträge bereits vor vielen Jahren anerkannt wurden. Es gibt vermehrt Widerrufsverfahren.

Das ist eine der vielen Widersinnigkeiten der Asylpolitik, mit der die Menschen mürbe gemacht werden. Während endlich über eine Bleiberechtsregelung diskutiert wird, leitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im großen Stil Widerrufsverfahren für anerkannte Asylbewerber ein. Rund 40000 Flüchtlingen aus dem Irak, Afghanistan, dem Kosovo und anderen Staaten wurde bisher der Asylstatus entzogen. Diese Menschen landen über kurz oder lang in der Duldung, weil viele von ihnen einfach nicht abgeschoben werden können. Aus unserer Sicht und der des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) verstoßen diese Widerrufe gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn jemand Schutz bekommen hat, dann kann dieser nach der Konvention nur widerrufen werden, wenn im Herkunftsland dauerhaft stabile Verhältnisse eingekehrt sind. Davon kann nach Ansicht des UNHCR im Irak und in Afghanistan nicht die Rede sein. Das Bundesverwaltungsgericht hat im November 2005 leider anders entschieden und die Behördenpraxis abgesegnet. Daher ist für diese Flüchtlinge nur noch auf dem gesetzlichen Wege etwas zu erreichen. Trotz obergerichtlicher Rechtsprechung gibt es Raum für eine politische Leitentscheidung, in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention Widerrufsverfahren nicht einzuleiten, weil die Verhältnisse nicht stabil verändert sind.

Wie müßten entsprechende Gesetzesänderungen aussehen?

Das einfachste wäre, es mit der ohnehin anstehenden Reform des Zuwanderungsrechts zu regeln. Es steht die Umsetzung von mehreren EU-Richtlinien in nationales Recht an. Bei der Gelegenheit könnte man eine großzügige Bleiberechtsregelung treffen und zugleich die Genfer Flüchtlingskonvention zur Grundlage des Asylrechts machen. Dann könnten die Widerrufsverfahren in dieser Form nicht mehr stattfinden.

Aber hat die Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland nicht ohnehin bereits Rechtskraft? Die Bundesrepublik hat die Konvention ratifiziert, insofern müßte sie doch bindendes Recht sein.

Da gibt es große Defizite. Im Grunde hat die Genfer Flüchtlingskonvention trotz der deutschen Unterschrift in der Praxis von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes keine Rolle gespielt. Der Begriff Flüchtling existierte im letzten Vierteljahrhundert nicht im deutschen Asyl- und Ausländerrecht. Und wenn man Elemente aus der Flüchtlingskonvention übernommen hat, dann quasi nur schamhaft und ohne Bezugnahme auf das internationale Recht. Überspitzt könnte man sagen, mit der deutschen Orientierung auf den Begriff der politischen Verfolgung hat man oft nach dem Urheber, dem Täter gefragt, anstatt mit der Genfer Flüchtlingsdefinition nach der Schutzbedürftigkeit des Geflohenen zu fragen. Von diesen versteinerten Verhältnissen kommen das Bundesamt, das ja ohnehin auf Ablehnung getrimmt ist, und auch die deutsche Richterschaft nur sehr langsam weg. Auch nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes gibt es weiterhin große Differenzen zwischen der Flüchtlingskonvention und der deutschen Praxis. Dies betrifft den Umgang mit dem Thema der Kriegsdienstverweigerung, die Restriktionen bei sogenannten Nachfluchtgründen, wenn Flüchtlinge sich exilpolitisch betätigen, die Frage der Anerkennung der religiösen Verfolgung. Nach deutschem Verständnis wird nur das religiöse Existenzminimum des stillen Kämmerleins geschützt.

Das vielgerühmte Zuwanderungsgesetz, mit dem sich seinerzeit die Grünen so gern gebrüstet haben, hat also keinen Fortschritt gebracht?

Das Zuwanderungsgesetz hat einige, wenige Verbesserungen gebracht, zum Beispiel, daß nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung jetzt als Asylgründe anerkannt werden. Aber es hat die Kettenduldungen nicht beendet und in weiten Teilen die Asylpraxis verschärft. Menschen, die Schutz brauchen, erhalten ihn nach wie vor nicht. Pro Asyl hat daher das Zuwanderungsgesetz als Ruine bezeichnet.

Eine Ruine, die abgerissen oder die rekonstruiert werden muß?

Was die Bezeichnung angeht, bin ich leidenschaftslos. Auf jeden Fall geht es darum, Verbesserungen zu erreichen. Im Rahmen der Umsetzung der EU-Asylrichtlinie könnte ein erster Schritt gemacht werden. Aber leider sieht es im Augenblick eher nach weiteren Verschärfungen aus. Auch nach 20 Jahren ist PRO ASYL noch lange nicht überflüssig.

Das Gespräch führte Wolfgang Pomrehn