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Ende Juni 2000 fand im Völkerbund-Palast in Genf die Nachfolge-Konferenz des Kopenhagener UN-Sozialgipfel statt. Am Rande tagten zahlreiche soziale Bewegungen aus aller Welt. Unter anderem wurden die Pläne für ein erstes Weltsozialforum in Porto Alegre vorgestellt. Nachfolgend einige Berichte über die Konferenzen, die ich seinerzeit aus Genf für die junge Welt schrieb. Weitere Artikel erschienen im Neuen Deutschland.


junge Welt, 22.06.2000 / Ausland

Globalisierungsgegner in Genf

Gewerkschaften und NGOs beraten über gemeinsame Schritte gegen Neoliberalismus

Wolfgang Pomrehn

In Genf beginnt am heutigen Donnerstag eine internationale Konferenz gegen die neoliberale Globalisierung. Soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGO) von allen fünf Kontinenten kommen zusammen, um drei Tage lang gemeinsame Positionen und Kampagnen zu erarbeiten. Äußerer Anlaß für das Treffen ist eine Sondersitzung der UN- Generalversammlung zum Thema soziale Entwicklung, die am Montag in der Schweizer Stadt im alten Völkerbundpalast beginnt. Die Staatengemeinschaft will fünf Jahre nach dem UN-Sozialgipfel in Kopenhagen über den Stand der sozialen Entwicklung und über Maßnahmen zu Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung beraten.

Die Idee zu der Antiglobalisierungskonferenz war im Februar geboren worden, als NGO und diverse soziale Bewegungen vor allem aus dem Süden am Rande der UN- Konferenz für Entwicklung (UNCTAD) zusammenkamen und die Lage nach dem vorläufigen Scheitern der Verhandlungen in der Welthandelsorganisation WTO berieten. Die breiten Proteste im US-amerikanischen Seattle im Dezember hatten rund um den Globus die Gegner der Konzernherrschaft beflügelt: »Diese Mobilisierung (in Seattle) zeigt die wachsende Ablehnung der Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung, die den Interessen der transnationalen Unternehmen dient«, heißt es in einem Entwurf für eine politische Erklärung, die in Genf verabschiedet werden soll. Kommt sie tatsächlich zustande, läge erstmalig ein gemeinsames Positionspapier eines so breiten Spektrums von Bauernbewegungen, Umweltschützern, Frauen- und Menschenrechtlern sowie Gewerkschaftern vor.

Die Gemeinsamkeiten all dieser Bewegungen sehen die Organisatoren der Genfer Konferenz, zu denen auch die französische Bürgerbewegung Attac gehört, vor allem in drei Punkten: Befürchtung weiterer Umweltzerstörungen durch die Dominanz des Profitprinzips und des Freihandels, in der Einschätzung, daß Demokratie abgebaut wird durch übermächtige Konzerne und die von ihnen dominierten internationalen Organisationen wie WTO, Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF), und vor allem in der sozialen Frage, dem Kampf gegen Privatisierung, Billigjobs und wachsende Unsicherheit für die arbeitende Bevölkerung weltweit.

Widersprüche bestehen hingegen in Fragen wie der Forderung nach Aufnahme von Sozial- und Umweltklauseln in die Verträge der Welthandelsorganisation (WTO), wie sie von einigen Gruppen aus dem Norden und vor allem von den Gewerkschaften der Industriestaaten erhoben werden. Auch in der Frage der Schuldenstreichung gibt es erhebliche Differenzen zwischen Befürwortern einer totalen und bedingungslosen Annullierung, zu denen unter anderem das Netzwerk Jubilee South gehört mit einer starken Verankerung zum Beispiel in Südafrika, und kirchlichen Gruppen aus dem Norden, die wesentlich moderater auftreten.

Die Organisatoren hoffen, daß auf der Konferenz die Gemeinsamkeiten in einer Plattform ausgebaut werden können, während man gleichzeitig die Meinungsverschiedenheit offen angeht. Darüber hinaus sollen zukünftige Kampagnen gegen IWF und Weltbank, die sich im September in Prag treffen, für Schuldenstreichung, gegen die WTO und für eine Kontrolle der internationalen Kapitalströme vorbereitet werden. Für den Sonntag ist eine Demonstration am Sitz der WTO geplant.




junge Welt
, 24.06.2000 / Ausland

Alternatives Davos geplant

Globalisierungsgegner diskutieren Grundlagenprogramm. Gegengewicht zum Weltwirtschaftsforum

Wolfgang Pomrehn, Genf

Nach intensiven Debatten geht am heutigen Sonnabend in Genf der Alternativgipfel des »Bangkoker Appells« zu Ende. Drei Tage lang haben rund 250 Delegierte aus etwa 50 Ländern in Vorfeld des UN-Sozialgipfels über die negativen Auswirkungen der Globalisierung und Möglichkeiten zur Gegenwehr diskutiert. Zum Abschluß des Treffens soll eine gemeinsame Erklärung verabschiedet werden, die als programmatische Grundlage eines Netzwerks der Globalisierungsgegner dienen könnte. Zumindest die europäischen Teilnehmer waren sich einig, daß es auf kontinentaler Ebene eine verstärkte Zusammenarbeit geben sollte. Allerdings waren längst nicht alle europäischen Staaten vertreten. Man beschloß, daß zunächst Attac-Frankreich, ein Zusammenschluß mehrerer Dutzend lokaler Gruppen, die internationale Koordination für ein Jahr übernehmen soll.

In zahlreichen Arbeitsgruppen wurden während der drei Tage einzelne Fragen der Globalisierung, wie etwa die Auswirkung auf Agrarmärkte, besprochen und konkrete Mobilisierungen vorgestellt, wie der Weltfrauenmarsch 2000 oder die Aktionen gegen die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im September in Prag. Auch kontroverse Punkte wurden angesprochen, wie die Haltung zu sogenannten Sozial- und Umweltklauseln, die die EU gerne in die Verträge der Welthandelsorganisation WTO integrieren wollen.

Die Mehrzahl der Anwesenden war sich in der Ablehnung dieses diplomatischen Schachzuges einig, der nichts für die Verbesserungen der sozialen Verhältnisse in der Welt bringen würde. Die Industriestaaten, die sich so sehr für die Klauseln einsetzen, sollten erst einmal für die Ratifizierung und Umsetzung der Konventionen der Internationalen Arbeitsorganistion ILO in ihren Ländern sorgen.

Von einigen Teilnehmern des Alternativgipfels wurde die Zusammensetzung der Versammlung beklagt. Vor allem frankophone und lateinamerikanische Bewegungen waren vertreten. Aus Asien, Nordamerika und Osteuropa waren hingegen nur sehr wenige Delegierte gekommen. Deutschland war durch einige Beobachter des Netzwerks für eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte vertreten.

Breiter angelegt ist hingegen ein Ansatz, für den in Genf die brasilianischen Teilnehmer warben: Ende Januar 2001 soll in Porto Alegre im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul ein Welt-Sozialforum stattfinden. »Wir wollen ein Gegengewicht zum Weltwirtschaftsforum in Davos schaffen«, so Diego Azzi von Attac Sao Paolo gegenüber junge Welt. Die Organisatoren, ein breites Bündnis sozialer Initiativen, an dem unter anderem auch die Bewegung der Landlosen MST beteiligt ist, rechnet mit 2 000 bis 2 500 Teilnehmern. Durch gezielte Einladungen soll sichergestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit der Gäste aus dem Ausland kommt. Sowohl die städtischen Behörden wie auch die Regierung des Bundesstaates, die beide von der Arbeiterpartei gestellt werden, haben ihre Unterstützung zugesagt.

In Genf ist unterdessen für Sonntag eine Demonstration vor dem hiesigen Hauptquartier der Welthandelsorganisation WTO geplant, die sich nach Auskunft der Schweizer Organisatoren gegen die »neoliberale Globalisierung« richten soll, als deren Hauptwerkzeug die WTO neben Währungsfond und Weltbank gesehen wird.




junge Welt, 24.06.2000 / Ausland

Der reiche Norden mauert

UN-Vollversammlung berät ab Montag in Genf über soziale Entwicklung

Wolfgang Pomrehn

Hohe Ziele hatte 1995 der Weltsozialgipfel in Kopenhagen gesteckt (siehe unten). Fünf Jahre später scheint wenig davon verwirklicht. Während der Welthandel rapide expandiert, haben schwere Wirtschaftskrisen ab 1997 vor allem in Ost- und Südostasien, Rußland und Lateinamerika das Heer der Armen um mehrere hundert Millionen vergrößert.

Ab Montag berät die UN-Vollversammlung in Genf auf einer fünftägigen Sondersitzung über den Stand der Umsetzung der Kopenhagener Beschlüsse. Neue Initiativen sollen gestartet werden. Wie üblich, werden um den Text der Abschlußerklärung schon seit längerem Vorverhandlungen geführt, die allerdings sehr zäh verlaufen.

Vor allem Teil III, in dem es um neue Initiativen und Maßnahmen geht, ist umstritten. Einigkeit gibt es erst über etwa die Hälfte des Textes. Neben vielem anderen wird wieder einmal um die sogenannten Sozialklauseln gestritten, um die internationale Durchsetzung von Rechtsstandards in der Arbeitswelt. EU und USA hatten bereits während der Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle diese Frage als Druckmittel gegen Entwicklungsländer eingesetzt, um von diesen Zugeständnisse zu erreichen. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Frage im Rahmen des Sozialgipfels vor allem aufgeworfen wird, um die EU- und US-Positionen innerhalb der WTO zu stärken.

Viele Fragen der sozialen Entwicklung sind unmittelbar mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen verbunden, so nehmen diese denn auch in den vorbereiteten Texten einen breiten Raum ein. Seitens der Entwicklungsländer wird unter anderem kritisiert, daß die meisten Industriestaaten, allen voran die EU, noch immer hohe Zollbarrieren für viele ihrer wichtigsten Exporte errichten, zumeist Agrarerzeugnisse und Textilien. Der Wirtschaft dieser Länder wird dadurch eine wichtige Entwicklungsmöglichkeit genommen.

Zu den diskutierten Initiativen gehört auch die bessere Kontrolle kurzfristiger internationaler Kapitalflüsse. EU und USA möchten aus dem Text allerdings Hinweise auf die negativen Auswirkungen von Finanzspekulationen gestrichen haben. Die in der Gruppe der 77 (G 77) zusammengeschlossenen Entwicklungsländer fordern in diesem Zusammenhang auch einen befristeten Stopp der Schuldendienste, um die betroffenen Staaten in die Lage zu versetzen, in »geordneter Weise« über Umschuldung verhandeln zu können. Die meisten Industriestaaten, darunter die EU, haben sich gegen diese Forderung ausgesprochen. In Kopenhagen hatten sich die UN-Mitglieder auf einen - allerdings nicht rechtsverbindlichen - Katalog von sozialen Verpflichtungen geeinigt. Um die Erreichung der allermeisten der aufgelisteten Ziele ist es allerdings schlecht bestellt. Gleich an erster Stelle wird die Überwindung der absoluten Armut genannt. Als »absolut arm« gilt in der UNO-offiziellen Definition, wer weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat. Nach verschiedenen Quellen sind das derzeit 1,2 bis 1,5 Milliarden Menschen. Die Zahl derjenigen, die von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben müssen, wird auf drei Milliarden geschätzt, das heißt die Hälfte der Weltbevölkerung. Vor allem im subsaharischen Afrika ist die Zahl der absolut Armen von 1987 bis 1998 von 220 auf 290 Millionen Menschen angewachsen, womit auch ein anderes Ziel des Kopenhagener Gipfels, die Entwicklung Afrikas, deutlich verfehlt wurde. Im gleichen Zeitraum ist in 80 Ländern das Pro-Kopf-Einkommen zurückgegangen. Auf der anderen Seite haben die 200 reichsten Menschen der Erde ihr Vermögen allein in den Jahren 1995 bis 1998 auf eine Billion US-Dollar verdoppelt.

Auch um den Anspruch eines allgemeinen und gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und medizinischer Grundversorgung ist es in vielen Teilen der Welt schlecht bestellt. Das Drängen der Industriestaaten und hier wiederum vor allem der EU, unter anderem im Rahmen der WTO, diese Dienste zu privatisieren, dürfte die Situation eher noch verschlechtern.

Schließlich ist auch der Anspruch, die Zusammenarbeit zur sozialen Entwicklung innerhalb der UNO zu stärken, heute weiter als vor fünf Jahren von seiner Umsetzung entfernt. Wie wenig die Industriestaaten von diesem Prinzip halten zeigten sie zuletzt durch ihre weitgehende Mißachtung der diesjährigen UN-Entwicklungskonferenz UNCTAD, die im Februar in Bangkok tagte.

Die Ziele des Kopenhagener Weltsozialgipfels 1995:

- Überwindung der absoluten Armut in einem für jedes Land festzulegenden Zeitrahmen; Vollbeschäftigung als ein grundlegendes Ziel der Politik;

- Förderung der sozialen Integration durch die Verbesserung und den Schutz aller Menschenrechte (zu denen nach Definition der UNO-Charta auch die sozialen Rechte gehören - WP);

- Gleichheit und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau;

- Beschleunigung der Entwicklung Afrikas und der am wenigsten entwickelten Staaten; Strukturanpassungsprogramme müssen die soziale Entwicklung als Ziel beinhalten;

- für die soziale Entwicklung müssen mehr Ressourcen bereitgestellt werden;

- es muß »eine ökonomische, politische, soziale, kulturelle und juristische Umwelt geschaffen werden, die es den Menschen ermöglicht, soziale Entwicklung zu erreichen«;

- allgemeiner und gleichberechtigter Zugang zu Bildung und medizinischer Grundversorgung;

- Stärkung der Zusammenarbeit für soziale Entwicklung innerhalb der UNO.





junge Welt, 26.06.2000 / Ausland

Wer schuldet wem wieviel?

Konferenz sozialer Bewegungen in Genf über Welthandel, »Schuldensklaverei« und Reparationen

Wolfgang Pomrehn, Genf

In Genf ging am Samstag abend eine Konferenz sozialer Bewegungen aus aller Welt zu Ende. Zuletzt waren es über 500 Vertreter von Frauengruppen, Menschenrechtsorganisationen, Bauernverbänden und einigen Gewerkschaften, die über gemeinsame Ziele und Kampagnen gegen die Institutionen der »neoliberalen Globalisierung«, wie es im Aufruf zu dem Treffen hieß, berieten. Stark vertreten war unter anderem das internationale Netzwerk für einen Schuldenerlaß Jubilee 2000, dem in Deutschland die Erlaßjahr- Kampagne angehört. Vor allem die Jubilee-Vertreter aus einigen Ländern des Südens nutzten die Gelegenheit, eine umfassende Streichung der Schulden der Entwicklungsländer zu fordern. Kwesi Owusu aus Ghana, der bei Jubilee die afrikanischen Mitgliedsorganisationen koordiniert, sprach davon, daß trotz aller schönen Worte über die allgemeinen Vorteile der Globalisierung Afrika immer tiefer in der »Schuldensklaverei« versinke. Dabei sei nach allen Zerstörungen, die die europäischen Kolonisatoren angerichtet haben, durchaus zu fragen, wer wem etwas schuldet. Die Forderung nach Reparationszahlungen wird in letzter Zeit von einem wachsenden Teil der sozialen Bewegungen Afrikas und Asiens erhoben.

Owusu berichtete in Genf, daß seine Organisation in den nächsten Wochen eine Kampagne durchführen wird, um im Vorfeld des G-7-Gipfels auf Okinawa (21. bis 23. Juli) der Forderung nach Schuldenstreichung Gehör zu verschaffen. In mehreren Ländern Afrikas sind kulturelle Großveranstaltungen geplant. In Lateinamerika gibt es im Juli eine kontinentweite Aktionswoche. Am 8. Juli werden sich die Finanzminister der G-7-Staaten treffen, um Einzelheiten des - mit Auflagen verbundenen - Schuldenerlasses zu besprechen, der vor einem Jahr in Köln beschlossen wurde, ohne daß bisher etwas passiert wäre. Jubilee 2000 ruft daher mit Unterstützung der Genfer Konferenz dazu auf, am 6. Juli vor den Botschaften der G-7-Staaten für Schuldenstreichung zu demonstrieren.

Um die Schuldenkrise und die verheerenden Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), die im Namen der Entschuldung vielen Entwicklungsländern und in den letzten Jahren auch osteuropäischen Staaten aufgezwungen werden, wird es im September auch in Prag gehen. Dort treffen sich IWF und Weltbank vom 21. bis zum 28. zu ihrer Jahrestagung. Tschechische Initiativen planen, wie in Genf berichtet wurde, zahlreiche Gegenveranstaltungen und -aktionen. Mehrere Demonstrationen sind in Vorbereitung, zu denen auch aus dem Ausland Teilnehmer erwartet werden. In Genf einigte man sich darauf, daß dies einer der internationalen Mobilisierungsschwerpunkte in diesem Jahr sein soll. Der 26. September wird wie schon der Tag der Eröffnung der WTO- Verhandlungen im letzten Jahr und der 16. April während der Weltbank-Frühjahrstagung zum globalen Aktionstag erklärt.

Eine andere wichtige Kampagne, die in Genf vorgestellt wurde, ist der internationale Frauenmarsch 2000, der bereits seit dem 8. März mit zahlreichen Veranstaltungen auf allen Kontinenten läuft. Im Oktober sollen die Aktionen in Demonstrationen vor den Hauptquartieren von IWF und Weltbank in Washington und der UNO in New York ihren Höhepunkt erreichen. Aus vielen Staaten berichteten die Teilnehmer der Genfer Konferenz, daß die Globalisierung die Frauen überdurchschnittlich hart trifft. Sie sind die ersten, die in Krisenzeiten entlassen werden, Mädchen sind überdurchschnittlich von der Verheerung des Bildungswesens betroffen und wenn die erzwungene Marktöffnung bäuerliche Existenzen vernichtet und die Ernährung der Landbevölkerung in vielen Staaten des Südens gefährdet, leiden Frauen und Kinder am meisten.

Eine der Forderungen der Abschlußerklärung war es denn auch, die Agrarmärkte auf keinen Fall weiter zu globalisieren und die Sicherstellung der Ernährung nicht den blinden Kräften des Marktes zu opfern. In diesem Sinne argumentierte auch Martin Khor vom Third World Network aus Malaysia, der das Abschlußplenum auf die für Sonntag nachmittag geplante Demonstration gegen die Welthandelsorganisation WTO einstimmte. Sowohl die absoluten WTO-Gegner als auch die Befürworter einer radikalen WTO-Reform seien sich in wichtigen Punkten einig: Die Aufgaben der WTO müßten eingeschränkt statt ausgedehnt, Bildungssystem und Gesundheitswesen vor Privatisierung geschützt und die vor allem von der Europäischen Union geforderte neue Verhandlungsrunde verhindert werden. Die EU will in diesen Verhandlungen einen umfassenden Investitionsschutz durchsetzen, der ihren Konzernen weltweit freie Hand geben würde. Auch die weltweit gültige Patentierung von Pflanzen und Tieren sowie Gentechnik, so Khor, der einer der führenden theoretischen Köpfe des Widerstandes gegen die WTO ist, müßten abgelehnt werden.

Die Demonstration zum Hauptquartier der WTO am Sonntag fand nach Redaktionsschluß statt. Die Organisatoren erwarteten mehrere tausend Teilnehmer unter anderem auch aus Frankreich. Die Schweizer Behörden scheinen indes nervös zu sein. Mitgliedern von Jubilee 2000 aus Großbritanien wurden bei der Einreise Holzstangen beschlagnahmt, mit denen Pappschilder getragen werden sollten. Die Genfer Stadtregierung hat für die Dauer der am heutigen Montag beginnenden UN-Sonderstitzung Verstärkung bei der Armee angefordert.

junge Welt, 30.06.2000 / Ausland

Kritik an falschem Konsens

NGOs empört über Armuts- und Entwicklungsbericht des UN- Generalsekretärs

Wolfgang Pomrehn, Genf

Während in Genf die Sondersitzung der UN- Generalversammlung zu Fragen der sozialen Entwicklung ihrem Ende entgegen geht, reagierten am Mittwoch nachmittag zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) empört auf den Bericht »Eine bessere Welt für alle«. UN- Generalsekretär Kofi Annan hatte diesen zu Beginn der Woche mit den Chefs der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der OECD (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) vorgestellt. Darin heißt es unter anderem: »Die Globalisierung eröffnet den Entwicklungsländern enorme Chancen - besseren Zugang zu Wissen, bessere Technologie, um Waren und Dienstleistungen anzubieten, besseren Zugang zu den Märkten der Welt. Aber um diese Chancen wahrzunehmen, muß gehandelt werden. Die Länder müssen ihre Zölle und andere Handelshindernisse runtersetzen und ihre Systeme für die Abwicklung von Im- und Exporten und Kapitalflüssen in Form bringen. Des Weiteren müssen sie ihre Inflation, Zinsen und Wechselkurse regulieren, um sich ein Ansehen als gute Wirtschaftsstandorte zu erwerben. Schließlich müssen sie sich um konsistente Politik bemühen, um das Vertrauen einheimischer wie ausländischer Investoren zu erhalten.«

Die NGOs - insgesamt 77 von allen Kontinenten, aus Deutschland unter anderem Terre des Hommes und Cairos Europa - halten dagegen, daß gerade die jüngsten Krisen in Asien und anderswo gezeigt haben, daß Marktöffnung und vor allem Liberalisierung der Finanzmärkte kein Weg zur Bekämpfung der Armut sind, sondern im Gegenteil diese eher fördern. Der Bericht, der für sich selbst in Anspruch nimmt, Wege aus der Armut aufzuzeigen, ließe die Rolle der Weltbank und des IWF vollkommen außer acht. Diese hätten in der Vergangenheit von den Regierungen der Entwicklungsländer Maßnahmen verlangt, die für nicht wenige Menschen Verarmung bedeutete. »Genau diese Politik der Bretton-Woods-Institutionen (WB und IWF), die allein auf den Export orientiert und von Wohlstandsverteilung und ökologischer Nachhaltigkeit absieht, ist für die betroffenen Regierungen ein Hindernis in der Entwicklung einer sozialen Politik«, heißt es in einer Erklärung der NGOs. Die Nichtregierungsorganisationen kritisieren insbesondere auch die Art, wie der Bericht zustande gekommen ist.

Während die Vereinten Nationen (fast) alle Staaten auf der Basis gleichen Stimmrechts repräsentieren, sind in der OECD nur die reichen Industriestaaten vertreten, die zugleich die überwältigende Stimmenmehrheit im IWF und in der Weltbank haben. Um gemeinsame Probleme anzugehen, bedürfe es eines Prozesses der Konsensbildung, wie er nur innerhalb der UN möglich sei. Weltbank und IWF würden dagegen ihre Lösungen den Regierungen aufzwingen. In der Tatsache, daß der UN-Generalsekretär dieses Dokument, das die parteiliche Sicht des Nordens repräsentiert, mit eingebracht hat, sehen die NGOs daher eine erhebliche Beeinträchtigung der Verhandlungen.

Schließlich merken die Kritiker an, daß der Bericht die anhaltende Armut in den reichen Ländern vollkommen unberücksichtigt ließe. Hierüber würden keine Statistiken geliefert. Das Bild, das so gezeichnet wird, »zeigt die wirkliche Natur des neuen Konsens: der Norden definiert die Probleme des Südens und liefert die Lösungen«.

Unterdessen ist in den Verhandlungen um Maßnahmen zur Umsetzung der eingegangenen Verpflichtungen immer noch ein erheblicher Teil des Verhandlungstextes umstritten. Europäische Union und USA sperren sich unter anderem dagegen, Gleichheit neben Vollbeschäftigung und Überwindung der Armut als Ziel anzuerkennen.


junge Welt, 03.07.2000 / Ansichten

Kriminelles Handeln

Nur schöne Worte bei UN-Sozialgipfel in Genf

Wolfgang Pomrehn

Fünf Jahre ist es her, daß sich die Staaten auf dem Sozialgipfel in Kopenhagen große Ziele zur Armutsbekämpfung und zur sozialen Entwicklung steckten. Geschehen ist seit dem wenig, und das wenige zeigte eher in die andere Richtung: Die Krisen in Asien, Lateinamerika und Rußland haben seitdem mehrere hundert Millionen Menschen zusätzlich unter die Einkommensgrenze von einem US-Dollar pro Tag gepreßt. Skepsis ist also angebracht, daß der Zeitrahmen für die Armutsbekämpfung, der jetzt in Genf vereinbart wurde, eingehalten werden kann. Und selbst der ist schon ein Skandal, bedeutet er doch, daß auch in 15 Jahren noch mehr als eine halbe Milliarde Menschen in krassester Armut leben werden. Von den weiteren eineinhalb Milliarden Menschen, die von einem bis zwei US-Dollar am Tag leben müssen, war gar nicht erst die Rede, ebensowenig davon, daß Armut auch in den Industriestaaten weit verbreitet und somit nicht unbedingt eine Frage fehlender Ressourcen ist.

Doch die Regierungen des reichen Nordens benehmen sich, als haben sie mit all dem nichts zu tun. Schon die geringe Aufmerksamkeit, die sie der UN-Vollversammlung in Genf widmeten - verglichen etwa mit dem Aufwand in Seattle -, spricht für sich. Hier und da ein paar besorgte Worte und das Versprechen von ein wenig Entwicklungshilfe - das war's. Ansonsten die ewige Litanei: Wird der Welthandel weiter ausgedehnt, bekommen alle eine Chance zur Entwicklung. Die Globalisierung als der große Glücksbringer für alle.

Doch spätestens seit dem Ausbruch der Krise in Asien vor drei Jahren glauben immer weniger diese vermeintlich frohe Botschaft. Zu offensichtlich ist, daß es auch in der Krise Verlierer und Gewinner gibt: Diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, ins Nichts stürzen und nicht selten von skrupellosen Eliten aufeinander gehetzt werden, wie derzeit in Indonesien und in vielen afrikanischen Staaten, und diejenigen, die in den angeschlagenen Ökonomien auf Schnäppchenjagd gehen, wie zum Beispiel deutsche Konzerne seit 1998 in Ostasien.

Der Zusammenbruch in Ostasien und das jahrzehntelange Siechtum Afrikas bestätigen dabei nur, was spätestens seit den Anfängen des Weltmarkts vor gut 500 Jahren feststeht: Es gibt keine fairen Handelsbeziehungen. Werden nichtindustrialisierte Staaten zur Öffnung ihrer Grenzen gezwungen, so nimmt man ihnen alle Entwicklungschancen. Und wer Länder, in denen die Bevölkerung elementar auf die staatliche Grundversorgung im Gesundheitswesen und in der Bildung angewiesen ist, weil sie vier Fünftel ihres Einkommens allein für Nahrungsmittel ausgeben muß, zur Privatisierung der öffentlichen Dienste zwingen will, wie es die EU versucht, der handelt schlichtweg kriminell. Da helfen alle schönen Worte auf einer UN- Versammlung nichts.

junge Welt, 03.07.2000 / Ausland

Embargopolitik verurteilt

UN-Sozialgipfel in Genf beendet. Sanktionen gegen Irak kritisiert. NGOs unzufrieden mit Ergebnissen

Wolfgang Pomrehn, Genf

Mit einem Tag Verspätung ging am Sonnabend in Genf der UN- Sozialgipfel zu Ende. Die Vertreter von 188 Ländern einigten sich in einer Abschlußerklärung darauf, bis 2015 die Zahl der in extremer Armut lebenden Personen zu halbieren. Als solche gelten all jene, die mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen. Derzeit sind dies etwa 1,5 Milliarden Menschen. Ebenfalls bis 2015 sollen alle Kinder Zugang zu kostenlosen Schulen haben. Das Dokument, das nur unter erheblichem diplomatischen Tauziehen zustande kam, fordert außerdem die Staaten auf, Lieferungen von Nahrungsmitteln und Medizin nicht als politisches Druckmittel zu mißbrauchen.

Der Vertreter des Iraks hatte unter lebhaftem Beifall auf die schweren Folgen des Embargos des UN-Sicherheitsrates für die Bevölkerung seines Landes hingewiesen. Zur Sprache kam auch das drückende Schuldenproblem vieler Länder, ohne daß man sich aber auf konkrete Maßnahmen zu deren Entlastung einigen konnte. Allerdings ist erstmals die Rede davon, daß in bestimmten Situationen Staaten das Recht haben, Rückzahlungen befristet auszusetzen.

Eine Woche lang hatte im alten Völkerbundpalast die Vollversammlung der Vereinten Nationen getagt, um die Umsetzung der Beschlüsse des großen Kopenhagener Sozialgipfels vor fünf Jahren und neue Maßnahmen zu beraten. Die Vertreter der Industriestaaten zeigten sich jedoch äußerst zurückhaltend bei der Übernahme konkreter Verpflichtungen. Umstritten war unter anderem, das Recht auf Entwicklung anzuerkennen.

Bei den beobachtenden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stießen die Ergebnisse zum Teil auf heftige Kritik: »Das Jahr 2015 als Zeitmarke zu setzen, bis zu der die Armut um die Hälfte zu reduzieren ist, bedeutet, Hunderte Millionen Menschen, vor allem Frauen, für eine weitere Generation zu einem Leben in hoffnungslosen, entwürdigenden Umständen zu verurteilen«, heißt es in einer NGO-Erklärung.

Die NGOs, zu denen unter anderem auch der Weltkirchenrat und zahlreiche nationale und internationale soziale Organisationen gehören, warfen vor allem den Industriestaaten vor, den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Globalisierung und der wachsenden Unsicherheit und sozialen Ungleichheit auf allen Ebenen zu leugnen. Die anhaltende Armut in den reichen Ländern bliebe vollkommen unerwähnt.

Die Vereinten Nationen hatten parallel zur Vollversammlung ein NGO-Forum organisiert, an dessen 227 Veranstaltungen rund 8 000 Menschen teilnahmen. Ein nicht unwesentlicher Teil dieses Programms wurde allerdings von Institutionen wie der Weltbank, der internationalen Handelskammer oder anderen Vertretern von Wirtschaftsinteressen organisiert. Einige NGOs hatten auch die Gelegenheit, ihre Kritik der Vollversammlung vorzutragen - am Freitag abend, als die Verhandlungen so gut wie abgeschlossen waren.

In einer Stellungnahme von NGO-Vertretern zur Abschlußerklärung heißt es, daß soziale Entwicklung demokratisch kontrolliert vor allem auf der lokalen Ebene stattfinden müsse. Transnationale Konzerne müßten für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können und internationalen Normen unterworfen werden. Das demokratische Mandat und die Strukturen der UNO wollen die NGOs als Gegengewicht zu den von den reichen Staaten kontrollierten Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation WTO gestärkt sehen.

Anders als nach dem Kopenhagener Gipfel wurde dieses Mal kein Termin für eine Konferenz zur Überprüfung der Fortschritte festgelegt. In den Abschlußdokumenten heißt es lediglich, daß man sich in einem angemessenen Zeitraum wiedertreffen werde.