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Im Juni 2001 fand im schwedischen Göteborg ein EU-Gipfel statt, aus dessen Anlass es zu massiven Protesten gegen die neoliberale Variante der europäischen  Integration kam. Die schwedische Polizeiführung hatte von Anfang an auf massive Konfrontation gesetzt, die schließlich in lebensgefährlichen Schüssen auf einen Demonstranten gipfelten. Nachfolgend die Berichte, die ich über die Ereignisse für die junge Welt aus Göteborg geschrieben habe.




junge Welt
, 14.06.2001 / Ansichten

Der Souverän stört

Proteste gegen EU-Gipfel in Göteborg

Eigentlich, meint Anthony Coughlan von der Nationalen Plattform Irlands, müßte man Brian Cowen, den Außenminister der Republik, wegen Hochverrats verklagen. Da haben die irischen Wähler letzte Woche ziemlich eindeutig Nein zum Vertrag von Nizza gesagt, doch der Rest der EU tut so, als sei nichts gewesen. Mehr noch: Cowen legt nicht einmal ein Veto ein. Spätestens am Montag hätte er dazu Gelegenheit gehabt, als der Rat der Außenminister beschloß, daß man den Willen des irischen Volkes respektiere, das Ergebnis aber bedauerlich sei. Anyhow, der Ratifizierungsprozeß werde unverändert fortgeführt und am verabredeten Zeitplan festgehalten. Nachverhandlungen? Fehlanzeige.

Deutlicher konnte nicht gezeigt werden, wie es im Moloch EU, den Bundesregierung und BDI gerne zu einem richtigen Staatswesen ausbauen wollen, um die Demokratie bestellt ist. Referenden, ja selbst öffentliche politische Diskussionen gelten hierzulande als Teufelswerk. Schließlich sei daran die Weimarer Republik zugrunde gegangen, wurde Generationen westdeutscher Schüler in die Köpfe gebimst.

Bei vielen unserer Nachbarn allerdings sind republikanische Traditionen deutlich besser ausgeprägt. Selbst in den konstitutionellen Monarchien Skandinaviens. Dort ist es größeren Teilen der Bevölkerung durchaus bewußt, daß sich EU-Europa in einem unausgesprochenen Verfassungsprozeß befindet, daß sukzessive Souveränität an Rat und Kommission übertragen werden und zwar ohne, daß der eigentliche Souverän, das Wahlvolk, gefragt wird. Und was da entsteht, muß ganz nach dem Geschmack der großen Lobbyisten sein: Eine Exekutive fernab nicht nur der Wähler, sondern auch der Parlamente, von denen sie eigentlich kontrolliert werden sollte. Mehr noch: Eine Exekutive, die selbst weitgehende legislative Befugnisse hat. Vorrepublikanische Zustände also. Entsprechend groß werden dieser Tage die Demonstrationen gegen den EU-Gipfel in Göteborg ausfallen. Wie schon im Dezember in Nizza werden viele Zehntausende ihren Unmut gegen die Entwicklung lautstark zum Ausdruck bringen. Die meisten werden es in dem Bewußtsein machen, daß die EU-Integration nur ein, wenn auch nicht unwichtiges Mosaiksteinchen in der allgemeinen Zentralisation ökonomischer und politischer Macht ist, die mit den Konzentrationsprozessen in der Wirtschaft und dem alle politischen Entscheidungen durchdringenden Primat des Profits einhergeht.

Bleibt die Frage, wann auch hierzulande Konsequenzen gezogen werden. Es muß ja nicht gleich ein unappetitlicher Nationalismus nach der Art Gabi Zimmers sein, der offensichtlich Höhenflüge über der Rhön nicht bekommen sind. Es würde ja schon reichen, ein wenig Französisch oder Griechisch zu lernen, um in einem Akt ganz konkreter Souveränität dem Rentenklauer Walter Riester auf die Finger zu klopfen.

junge Welt, 15.06.2001 / Titel

Klasse Kampf in Göteborg

Proteste gegen US-Präsident Bush und EU-Gipfel in Schweden. Von Wolfgang Pomrehn

Es war nicht viel mehr als eine Stippvisite, was US-Präsident Bush am Donnerstag im schwedischen Göteborg absolvierte. Ein Treffen mit dem Königspaar, ein Mittagessen mit den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, und schon ging es weiter. Allzu begeistert werden die EU-Spitzen daher nicht gewesen sein. Bereits im Vorfeld hatte Bush einmal mehr deutlich gemacht, daß er sich in Sachen Klimaschutz, derzeit das heiße Eisen in den Beziehungen der Europäischen Union zu den USA, keinen Zentimeter zu bewegen gedenkt. Selbst die bindende Verpflichtung der bereits ratifizierten Klimarahmenkonvention von 1992 hatte er zu Beginn der Woche indirekt in Frage gestellt.

Auch auf den Straßen Göteborgs gab es wenig Begeisterung für den Besuch aus Washington. Gipfelgelände und Stadtzentrum sind mit Metallgittern und Betonklötzen abgesperrt. Für den Abend war eine große »Not-Welcome- Demonstration« geplant. Mehrere tausend Menschen protestierten bereits den ganzen Tag über verteilt in der Stadt gegen das Spektakel. Am Rande des Treffens EU-USA kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Berittene Polizei ging gegen Protestteilnehmer vor; dabei kamen auch Hunde zum Einsatz. Die insgesamt mindestens 500 Teilnehmer der Kundgebung riefen »Parolen wie 'Solidarität' und 'Klassenkampf'«, wie ein Kollege von AFP notierte.

Die Aktionen gegen die Demonstranten begannen kurz nach der Ankunft Bushs in der schwedischen Hafenstadt. Bereitschaftspolizisten umstellten eine Oberschule und hinderten etwa 400 Aktivisten daran, das Gebäude zu verlassen. Die schwedische Nachrichtenagentur TT berichtete, zehn bis 15 Passagiere eines Busses aus Deutschland seien am Donnerstag morgen inhaftiert worden. Sie sollen offenbar aus Schweden ausgewiesen werden. In Göteborg selbst befinden sich dieser Tage mehrere tausend Aktivisten sozialer Bewegungen. Die Veranstalter haben allein 9000 Plätze für Auswärtige in 19 Schulen organisiert. Bereits seit dem Wochenende gibt es eine ganze Serie von internationalen Konferenzen und Seminaren, die sich mit den verschiedensten Aspekten der EU-Politik kritisch auseinandersetzen. Antirassistische Veranstaltungen gegen die »Festung Europa« gehörten ebenso dazu wie eine Konferenz der Umweltschutzorganisation Friends of the Earth und ein anarcho-syndikalistischer Kongreß. Für Freitag vormittag sind Straßenblockaden geplant. Nachmittags wird es eine Demonstration schwedischer Parteien für den Austritt Schwedens aus der EU geben. Für eine internationale Demonstration am Sonnabend haben sich unter anderem auch mehrere tausend Gewerkschafter, Umweltschützer und andere EU-Gegner aus Norwegen und Dänemark angekündigt. Insgesamt werden mehrere zehntausend Demonstranten erwartet.

junge Welt, 15.06.2001 / Ansichten

Wie nachhaltig ist die EU-Politik?

junge Welt sprach mit Alexandra Wandel

* Alexandra Wandel ist Koordinatorin des Themas Handel im Brüsseler Büro von Friends of the Earth, einem internationalen Dachverband von Umweltschutzorganisationen, dem auch der deutsche BUND angehört

F: In Göteborg steht derzeit nachhaltige Entwicklung auf der Tagesordnung des EU-Gipfels, doch hinter den Kulissen ist die EU-Kommission seit geraumer Zeit dabei, mit allen diplomatischen Tricks die Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) zu einer neuen Verhandlungsrunde zu bewegen. Viele Nichtregierungsorganisationen sind deswegen alarmiert. Weshalb?

Wir sind besorgt wegen der Positionen der Kommission, die in dieser Frage die Rückendeckung der EU-Staaten hat. Schon jetzt gibt es große Probleme mit den bereits existierenden Verträgen, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Dienstleistungen und geistiges Eigentum, das heißt, Patentrecht. Daher sagen wir, wie auch die meisten Länder des Südens, jetzt ist sicherlich nicht die Zeit, noch über weitere Themen Verhandlungen zu eröffnen. Man muß sich vielmehr erst einmal mit dem angehäuften Problemberg auseinandersetzen.

F: Worin besteht der?

Nehmen wir zum Beispiel die Landwirtschaft: Oberstes Ziel der Verträge ist es hier, wie in allen anderen Bereichen, die weitestgehende Liberalisierung des Handels durchzusetzen. Fragen, wie etwa die Sicherung der Ernährung, spielen keine Rolle. Das ist angesichts der Auswirkungen des Freihandels auf lokale Märkte in den Ländern des Südens besonders fatal. Dort, wie auch in einigen Regionen Osteuropas, können die lokalen Produzenten kaum mit den subventionierten Exporten der EU oder auch der USA mithalten. Die Folge: Lokale Märkte brechen zusammen, arme Länder mit instabilen Währungen werden von Nahrungsmittelimporten abhängig. Ein anderes Problem ist, daß die WTO-Verträge das Vorsorgeprinzip unterminieren, in dem die Möglichkeiten, gefährliche Nahrungsmittelimporte zu verhindern, eingeschränkt werden. Die EU hat das selbst erst kürzlich am Beispiel des Hormonfleisches aus den USA erlebt. Aber Hauptleidtragende sind natürlich die schwächeren Staaten. Es gibt in der WTO ein erhebliches Demokratiedefizit, da EU und USA stark dominieren. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der vielen fragwürdigen Folgen der bestehenden Verträge. Deshalb haben erst kürzlich wieder soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt die EU aufgefordert, ihre Haltung zu ändern. Die beharrt allerdings vollkommen unbeeindruckt auf ihrem Vorschlag. Unter anderem will sie auch Wasser, Energieversorgung und öffentliche Beschaffungsmaßnahmen in die WTO-Verträge einbeziehen.

F: Dieser Vorstoß der Kommission, auch die Wasserversorgung für die Privatwirtschaft zu öffnen, paßt dazu, daß in Westeuropa die größten auf diesem Gebiet tätigen Konzerne ansässig sind. Vivendi zum Beispiel, aber auch die deutsche RWE drängen sehr stark auf diesen Markt.

Richtig. Und man sollte wirklich darauf hinweisen, daß es nicht etwa die USA sind, von denen solche Vorschläge stammen, sondern eben die EU-Kommission. Offensichtlich gibt es seitens der interessierten Konzerne erheblichen Druck in diese Richtung. Wir haben deshalb vor, Studien über die sozialen und ökologischen Folgen der Wasserprivatisierung zu erstellen. Und wir fordern, daß in die WTO eine Art Überprüfungsprozeß eingebaut wird, das heißt, daß es zum Verhandlungsprozeß dazugehören muß, daß die sozialen und ökologischen Folgen der Verträge regelmäßig überprüft werden. Wir wollen nicht Handel über alles, sondern eine nachhaltige Entwicklungspolitik

F: Wie könnte diese aussehen?

Langfristig muß der Handel ganz anders ausbalanciert werden. Wir brauchen eine viel stärkere Förderung der lokalen und regionalen Märkte, während heute die Betonung vor allem auf dem internationalen, das heißt, dem Fernhandel liegt. Außerdem müssen die sozialen und ökologischen Folgekosten in die Preise der Waren integriert werden. Kurzfristig fordern wir mehr Kontrolle der transnationalen Konzerne. So müßte es für den UN-Gipfel für Umwelt und Entwicklung, der nächstes Jahr in Johannesburg stattfindet, ein entsprechendes Verhandlungsmandat geben. Diese Konzerne müssen endlich an die Leine genommen, die sozialen und ökologischen Folgen ihres Handelns müssen besser überwacht werden.

F: Das heißt, Handels- und Entwicklungspolitik in den Kontext der Vereinten Nationen zurückzuholen, wo alle Staaten zumindest theoretisch das gleiche Gewicht haben?

Richtig. Wir haben derzeit die Situation, daß die wirtschaftlichen Organisationen wie WTO und Weltbank sehr stark sind, während die Rolle der UNO mit ihren zum Teil sehr guten Konventionen unterminiert wird. Es gibt zum Beispiel schon Verhandlungen innerhalb der Vereinten Nationen über die Sicherung der Wasserversorgung. Deshalb ist es überhaupt nicht einzusehen, daß die EU-Kommission dieses Thema in die WTO holen will, in der die Entwicklungsländer eine viel schwächere Position haben.

Interview: Wolfgang Pomrehn

junge Welt, 18.06.2001 / Ausland

Der Zirkus zieht weiter

Eindrücke von den Protesten gegen den EU-Gipfel im schwedischen Göteborg. Von Wolfgang Pomrehn

Sonntag nachmittag. Der Gipfel-Zirkus ist weitergezogen und eine schockierte Stadt leckt ihre Wunden. Scherben werden zusammengekehrt, Pflastersteine aufgesammelt, Scheiben provisorische geflickt und Holzverkleidungen wieder abgebaut. Viele - fast alle, scheint es - sind entsetzt über das Vorgefallene. So etwas hatte Göteborg noch nicht gesehen. Bildjournalisten kamen auf ihre Kosten: Heroische Vermummte vor dem Hintergrund brennender Barrikaden, Polizisten im Steinhagel, eine junge Steinewerferin in Großaufnahme. Und die Kollegen von den Agenturen konnten sich im warmen Konferenzzentrum, fernab des Geschehens, an den Fernsehschirmen ein Bild von der Lage machen, während sie die Presseerklärungen der Polizei abschrieben. - Ein Bild, eines von vielen möglichen, aber nur das eine wird um die Welt gehen, denn es paßt so schön. Es paßt denjenigen, denen es nun erspart bleibt, sich für ihre Politik öffentlich rechtfertigen zu müssen, und jenen, die es lieben, an ihren Revolutionsmythen zu stricken - maskierte Machos aus Berlin zum Beispiel, die so gerne der Provinz und aller Welt zeigen, wo es langgeht.

Alles hatte am Donnerstag vormittag angefangen: Tausende waren bereits aus ganz Schweden angereist, einige auch aus dem Ausland. Das »Göteborg 2001«-Bündnis hatte von der Stadt einige Schulgebäude zur Verfügung gestellt bekommen. Überhaupt hatte man mit den städtischen Behörden und auch der Polizei gut kooperiert, wie es in Schweden eben üblich ist. In einer dieser Schulen, ganz in der Nähe des Konferenzzentrums, hatten gewaltfreie Gruppen ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Darunter auch der schwedische Ableger von Ya Basta und »Direkte Demokratie«, eine junge schwedische Organisation, die nach neuen Wegen zu einem »freiheitlichen Sozialismus« sucht, der auf lokaler Demokratie basieren soll.

Ausgerechnet dieses Zentrum der Gewaltfreien wurde zum ersten Ziel einer größeren Polizeioperation. Generalstabmäßig wurde das Schulgelände umstellt. Später wurden sogar große Transportcontainer herangeschafft, um um das Gelände einen Wall zu bilden. Protestierende Unterstützer außerhalb der Einschließung wurden unter anderem von einer Reiterstaffel abgedrängt. Hierbei kam es zur ersten Eskalation. Die ersten Steine flogen.

Unterdessen hatten die Eingeschlossenen versucht, gegen die Polizeiketten zu drücken, um ihre Freilassung zu erzwingen. Als sie dies bereits aufgegeben hatten und sich wieder auf den Rückzug befanden, berichten verschiedene Augenzeugen unabhängig voneinander, seien sie von den Beamten unvermittelt angriffen worden. Es sei auf alles wahllos eingeschlagen worden. Erst am Freitag morgen kamen sie schließlich frei. Seitens der Polizei wurde als Grund angegeben, in der Schule seien Straftaten begangen worden. Die Größe der Operation läßt allerdings eher vermuten, daß man sie seit langem geplant hatte.

Auch am Freitag vormittag, als etwa 1500 bis 2000 Menschen versuchen, in Richtung des Tagungsortes zu ziehen, zeigt die Polizei wenig Interesse an Deeskalation. Anstatt die Menge abzudrängen, wird gleich der Knüppel gezogen. Hunde werden gezielt auf den sogenannten schwarzen Block gehetzt. Wieder reitet eine Pferdestaffel in die Menge und schlägt nach Links und Rechts um sich. Die ersten Scheiben gehen zu Bruch, die Wut entlädt sich ziemlich ziellos an Wartehäuschen, Banken und Cafés.

Am Freitag abend dann die zweite Großdemonstration. 20000 zumeist sehr junge Menschen demonstrieren gegen die EU, gegen die Euro-Armee, gegen die Festung Europa, gegen Neoliberalismus, gegen den Euro. Immer wieder erklingen Parolen, die internationale Solidarität und Klassenkampf fordern. Bürgerliche Parteien gehören zu den Aufrufern, doch jungen Sozialisten aller möglichen Schattierungen, von der Sozialdemokratie bis zu den Anarcho-Syndikalisten, dominieren das Bild. Weit und breit ist keine Polizei zu sehen. Ordner der Veranstalter regeln den Verkehr. Einige Deutsche sind ganz begeistert und wollen sich mit ihren Bierdosen einreihen. Ein baumlanger Ordner weist sie daraufhin, daß das in Schweden gar nicht gern gesehen wird.

Leider scheinen das nicht alle mitbekommen zu haben. Zur gleichen Zeit braut sich an anderer Stelle Schlimmes zusammen. Auf Göteborgs Prachtstraße feiert eine friedliche Menge aus dem gewaltfreien »Hippie«-Spektrum eine Reclaim-the-Streets-Party. Doch anders als bei der Demonstration ist hier die Polizei zahlreich und in voller Montur aufgezogen. Hier eskaliert die Szene schnell. Offensichtlich versucht die Polizei, die seit langem angekündigte Aktion zu unterbinden. In der Folge entwickelt sich eine mehrstündige Straßenschlacht mit Autonomen aus verschiedenen Ländern, die endlich auf ihre Kosten kommen. »Niña-Warriors« nennt sie ein slowenischer Augenzeuge gegenüber junge Welt. Ein Beteiligter gesteht später ein, daß mancher der »Streetfighter« nicht mehr ganz nüchtern war. Die Kämpfe erreichen ihren traurigen Höhepunkt, als ein Polizist seine Waffe zieht und auf Angreifer schießt. Er sah sich mit einer Gruppe von etwa fünf Kollegen einer Überzahl von Schwarzgekleideten gegenüber, wie zwei unbeteiligte Augenzeugen berichten. Er habe geschossen, als einer seiner Kollegen bereits bewußtlos am Boden lag und ein anderer im Steinhagel hinstürzte. Drei Personen wurden durch Schußwunden verletzt, einer der Demonstranten lebensgefährlich.

Am Morgen nach der Straßenschlacht sehen einige Straßen wüst aus. Überall liegen Pflastersteine, bei zahllosen Geschäften, ob Bank oder Tante-Emma-Laden, sind die Scheiben eingeschlagen. Auch ein Buchladen ist darunter. Eine weitere Demonstration ist angekündigt. Die Organisatoren überlegen zunächst, ob es überhaupt losgehen soll und legen die Route dann um: Möglichst weit weg vom Konferenzort, um jede weitere Konfrontation zu vermeiden. Die Zusammensetzung am Sonnabend ist fast die gleiche wie am Vortag. Die Stimmung ist trotz der tragischen Vorfälle sehr entschlossen. Der Zug ist unüberschaubar lang. 20000 Teilnehmer berichtet die Göteborg Posten später. Es könnten aber auch noch mehr gewesen sein. Allein der Block der Anarcho-Syndikalisten, die in einem Meer schwarz-roter Fahnen demonstrieren, umfaßt rund 2000 Menschen. Auch hier immer wieder Parolen und Transparente, die den Internationalismus betonen. Die EU-Gegnerschaft läßt sich in Skandinavien offensichtlich nicht in die nationalistische Ecke stellen

junge Welt, 27.07.2001 / Ausland

Seid ihr zufrieden, G-Achter?

Die Konsequenzen der Gewalt: Fragen über Fragen. Ein Diskussionsbeitrag von Susan George (*)

Seid ihr zufrieden, G-Achter? Zufrieden, in diesen Palästen zusammenzukommen, in Städten, die ihrer Einwohner entleert sind? Zufrieden mit eurer unverändert katastrophalen neoliberalen Politik, die ihr uns ungestraft im Namen transnationaler Konzerne und der Finanzmärkte aufzwingt? Zufrieden, sicherzustellen, daß die Ungerechtigkeit auf diesem Planeten mit jedem Jahr und jedem G-8-Treffen schlimmer wird? Zufrieden, euren miserablen kleinen Gesundheitsfonds angekündigt zu haben, der gerade ein Zehntel von dem enthält, was der arme Kofi Annan letzten Monat allein für AIDS erbeten hatte? Zufrieden, eure tadellosen Anzüge vorzuzeigen sowie eure selbstbezogene Gestik, da doch der einzig verbleibende Grund für eure Treffen ist, zu bestätigen, daß ihr tatsächlich die G 8 seid?

Seid ihr zufrieden, Cops? Zufrieden, daß ihr endlich einen Demonstranten umgebracht habt? In Göteborg ist euch das nicht gelungen, aber dieses Mal. Eine große Premiere in Genua, ein legaler Mord. Das wird den kleinen Bastarden eine Lehre sein. Tränengas, Wasserwerfer, Plastikpanzerung, das ist alles für Amateure - richtige Männer schießen scharf. Blut auf dem Pflaster, zerschundene Körper. Gute Arbeit. Zufrieden, daß ihr mitten in der Nacht das alternative Medienzentrum und den Treffpunkt des Forums überfallen konntet, daß ihr Computer zerschlagen, Kassetten beschlagnahmt habt, um die Spuren eurer Aktivitäten zu verwischen? Bravo.

Seid ihr zufrieden, Demonstranten? Nicht jene große Mehrheit ist gemeint, die das Genoa Sozial Forum unterstützt hat - ich weiß, daß ihr zerstört seid und einige von euch blutig geschlagen. Auch nicht jene vielen »Mitglieder« des Schwarzen Blocks, die ihn in Wirklichkeit im Auftrag der Polizei unterwandert haben. Ich meine euch, ihr vom eigentlichen Schwarzen Block, die ihr in all den Monaten nie an einem der vielen Vorbereitungstreffen teilgenommen habt, die ihr nicht zu einer der verantwortlichen 700 italienischen Organisationen gehört, die demokratisch entschieden hatten, kreative und aktive Gewaltfreiheit zu praktizieren. Seid ihr zufrieden mit euren einseitigen Aktionen, zufrieden, euch bewußt unter friedliche Demonstranten gemischt zu haben, so daß auch diese Tränengas und Knüppel abbekamen? Zufrieden, daß ihr auf die vorhersehbaren Polizeiprovokationen eingegangen seid? Seid ihr zufrieden, daß wir endlich unseren Märtyrer haben?

Sein Name war Carlo Giuliani. Er war 23 Jahre alt und kam mit seinen eigenen Überzeugungen. Das ist alles, was zu sagen ist. Es waren nicht unsere Überzeugungen, aber wir protestieren gegen seine Exekution.

Die Tatsache bleibt, daß die Bewegung für eine andere Globalisierung in Gefahr ist. Entweder gelingt es uns, deutlich zu machen, was die Polizei vorhat, und die gewaltsamen Methoden der wenigen in Schach zu halten, oder wir riskieren, daß die größte politische Hoffnung, die wir in den letzten Jahrzehnten hatten, in Scherben vor uns liegt. Wer auch immer die Verantwortung für das trägt, was in Genua vorgefallen ist - und sie liegt massiv auf der Seite der G8 und der Polizei -, diese breite, machtvolle internationale Bewegung, diese Bewegung von Völkern vereint in Solidarität, von der wir geträumt hatten, kann nicht mehr auf die gleiche Art weiter machen. Sie kann nicht länger akzeptieren, daß jeder macht, was er will. Ein Mensch ist gestorben.

Wenn wir keine friedlichen, kreativen Demonstrationen garantieren können, dann werden die Arbeiter und die offiziellen Gewerkschaften nicht mitmachen, unsere Basis wird wegbröckeln, die gegenwärtige Einheit über Generationen und gesellschaftliche Sektoren hinweg wird zerfallen. Wir, die große Mehrheit, die ernsthafte Vorschläge zu machen hat, wir, die wir glauben, daß eine andere Welt möglich ist, wir haben verantwortlich zu handeln. Konfrontiert mit staatlich gefördertem Terror müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Demonstrationen und direkten Aktionen fortsetzen können, ohne unsere Menschen dabei zu gefährden; müssen wir uns überlegen, wie wir es vermeiden, den öffentlichen Raum einer winzigen, explosiven Minderheit zu überlassen. Eins ist sicher: Wir können diesen Kampf nicht aufgeben und wir werden nicht aufhören, gegen die riesigen Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Globalisierung zu kämpfen; aber wir werden neue, demokratische Wege finden müssen, diesen Kampf zu führen.

Vor 2 500 Jahren sagte der große chinesische Stratege Sun Tzu: »Mache nicht, was du am liebsten tätest. Mache, was dein Gegner am wenigsten möchte, daß du es tust.« Ich fürchte, daß unsere Gegner sehr zufrieden sind. Was mich angeht, so versuche ich, über die Ereignisse hinwegzukommen und nicht der Verzweiflung nachzugeben.

(*) Die Autorin ist Vizepräsidentin von Attac Frankreich und eine der Direktorinnen des Transnational Institutes in Amsterdam. Sie hat insgesamt neun Bücher veröffentlicht, auf Deutsch zuletzt »Der Lugano-Bericht«. Mehr im Internet unter:http://www.tni.org/george/

Übersetzung: Wolfgang Pomrehn