Mit einem Appell zu verstärkten Anstrengungen zur Entwicklung des
Landes ist Mitte der Woche ein viertägiges Plenum des
Zentralkomitees
der KP
Chinas
zu Ende gegangen. Die Beratungen hatten sich um die Schaffung einer
sogenannten harmonischen Gesellschaft gedreht. Unter diesem Schlagwort
wird seit dem Antritt der derzeitigen Führung unter dem KP-Chef
und
Staatspräsidenten Hu Jintao sowie dem Premierminister Wen Jiabao
vor
knapp vier Jahren der Abbau der sozialen Ungleichheiten und die
Bekämpfung der negativen Auswüchse des chinesischen
Dauerbooms
verstanden. Hu setzt sich damit von seinem unpopulären
Vorgänger Jiang
Zemin ab, der, nicht zuletzt auf Anraten ausländischer Investoren
sowie
von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, eine Politik des
Wachstums um jeden Preis betrieben hatte.
Das ZK-Plenum erhob
nun den Aufbau einer "harmonischen Gesellschaft" zur Richtschnur
für die Politik bis 2020. Das
höchste Parteigremium stellte den wachsenden Reichtum einer
relativ
kleinen Schicht privater Unternehmer nicht in Frage. Immerhin wurde
jedoch die Verringerung der Einkommensunterschiede zu einem wichtigen
Ziel erklärt.
Rechtlose Wanderarbeiter
Gegenüber den derzeitigen Verhältnissen würde das eine
erhebliche
Verbesserung darstellen. »Die chinesische Gesellschaft wird von
einem
gähnenden Abgrund zerteilt«, zitiert die Nachrichtenagentur
Xinhua Wu
Zhongmin, der an der Parteischule des ZK in Peking lehrt.
»Steigende
Preise für Gesundheitversorgung, Wohnen und Bildung bereiten den
Menschen im Zusammenhang mit unzureichenden sozialen Sicherungssystemen
und wachsender Arbeitslosigkeit mehr und mehr Sorge.«
Chinesische
Sozialwissenschaftler sprechen inzwischen davon, daß das Land zu
den
Staaten mit den größten Unterschieden zwischen arm und reich
gehört. In
den Städten entfallen auf das unterste Fünftel der
Bevölkerung nur 2,7
Prozent der Einkommen, während das obere Fünftel 60 Prozent
für sich
beansprucht. Doch selbst das ist nur die halbe Wahrheit, denn die
Heerscharen der sogenannten Wanderarbeiter werden von den Statistiken
nicht erfaßt. Sie leben und arbeiten zwar in den Städten
– meist in den
am schlechtesten bezahlten Jobs–, gelten aber wegen des
chinesischen
Melderechts nicht als Stadtbewohner. Rund 150 Millionen Menschen sind
vor der ländlichen Armut in die Städte geflohen, wo sie quasi
illegal
wohnen, vergleichbar hierzulande mit abgelehnten Asylbewerbern, die nur
kurzfristige Duldungen erhalten und jederzeit abgeschoben werden
können. Ihnen wird eine Vielzahl sozialer Rechte, wie etwa der
Zugang
zu den rudimentären Sozialversicherungen, vorenthalten. In vielen
Städten werden die Kinder der Wanderarbeiter nicht einmal von
öffentlichen Schulen angenommen.
Schwerpunkt Bildung
Dieses Problem wird im Kommuniqué des ZK nicht direkt
angesprochen. Die
Bildung wurde allerdings zu einer der Top-Prioritäten
erklärt, und so
ist zu hoffen, daß auch die besonders benachteiligten
Arbeiterkinder
profitieren werden. Bisher werden in der Volksrepublik nur drei Prozent
des Bruttoinlandprodukts für die Bildung ausgegeben, während
international der Durchschnitt bei fünf Prozent liegt (Deutschland
4,6
Prozent). In
China
werden die letzten Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen im
allgemeinen für einen Fehlschlag gehalten, weil sie zu einem
Anstieg
der Preise geführt haben, schreibt Xinhua in einem Kommentar.
Viele
Leistungen seien heute für die mittleren und unteren
Einkommensgruppen
unbezahlbar. Die Erklärung des ZK hebt nun hervor, daß der
Aufbau
umfassender sozialer Sicherungssysteme sowohl für die Stadt- als
auch
für die 800 Millionen Köpfe zählende
Landbevölkerung eine wichtige
Voraussetzung für den Aufbau einer »harmonischen
Gesellschaft« ist.
Ansonsten
wird in dem Text mehrfach betont, daß zum Aufbau einer
harmonischen
Gesellschaft auch die Entwicklung von Demokratie, Rechtssicherheit und
der »Herrschaft des Gesetzes« gehört. Letzteres ist
besonders
bemerkenswert, da bisher in
China nur die
Rede von der »Herrschaft mittels Gesetzen« (rule by law)
die Rede war
und die jetzt gewählte Formulierung stets abgelehnt wurde.
Ein
wichtiges Motiv für die Umorientierung auf mehr sozialen Ausgleich
und
stärkere Anhebung der unteren Einkommen ist sicherlich die
wachsende
Unruhe im Land. Die chinesischen Behörden haben vor einiger Zeit
damit
begonnen, Statistiken über Streiks, Demonstrationen und
ähnliches zu
veröffentlichen, die eine deutliche Zunahme der Konflikte zeigen.
Eine
Verbesserung der unteren Einkommen wird auch eine wichtige Stütze
für
den Binnenmarkt sein, die die chinesische Wirtschaft gegen rauhere
Zeiten auf dem Weltmarkt schützen könnte.