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14.10.2006 / Kapital & Arbeit / Seite 9

Kehrseiten des Booms

Die KP Chinas reagiert mit ihren Beschlüssen auf die wachsende Kluft zwischen arm und reich

Von Wolfgang Pomrehn

Mit einem Appell zu verstärkten Anstrengungen zur Entwicklung des Landes ist Mitte der Woche ein viertägiges Plenum des Zentralkomitees der KP Chinas zu Ende gegangen. Die Beratungen hatten sich um die Schaffung einer sogenannten harmonischen Gesellschaft gedreht. Unter diesem Schlagwort wird seit dem Antritt der derzeitigen Führung unter dem KP-Chef und Staatspräsidenten Hu Jintao sowie dem Premierminister Wen Jiabao vor knapp vier Jahren der Abbau der sozialen Ungleichheiten und die Bekämpfung der negativen Auswüchse des chinesischen Dauerbooms verstanden. Hu setzt sich damit von seinem unpopulären Vorgänger Jiang Zemin ab, der, nicht zuletzt auf Anraten ausländischer Investoren sowie von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, eine Politik des Wachstums um jeden Preis betrieben hatte.

Das ZK-Plenum erhob nun den Aufbau einer "harmonischen Gesellschaft" zur Richtschnur für die Politik bis 2020. Das höchste Parteigremium stellte den wachsenden Reichtum einer relativ kleinen Schicht privater Unternehmer nicht in Frage. Immerhin wurde jedoch die Verringerung der Einkommensunterschiede zu einem wichtigen Ziel erklärt.

Rechtlose Wanderarbeiter

Gegenüber den derzeitigen Verhältnissen würde das eine erhebliche Verbesserung darstellen. »Die chinesische Gesellschaft wird von einem gähnenden Abgrund zerteilt«, zitiert die Nachrichtenagentur Xinhua Wu Zhongmin, der an der Parteischule des ZK in Peking lehrt. »Steigende Preise für Gesundheitversorgung, Wohnen und Bildung bereiten den Menschen im Zusammenhang mit unzureichenden sozialen Sicherungssystemen und wachsender Arbeitslosigkeit mehr und mehr Sorge.«

Chinesische Sozialwissenschaftler sprechen inzwischen davon, daß das Land zu den Staaten mit den größten Unterschieden zwischen arm und reich gehört. In den Städten entfallen auf das unterste Fünftel der Bevölkerung nur 2,7 Prozent der Einkommen, während das obere Fünftel 60 Prozent für sich beansprucht. Doch selbst das ist nur die halbe Wahrheit, denn die Heerscharen der sogenannten Wanderarbeiter werden von den Statistiken nicht erfaßt. Sie leben und arbeiten zwar in den Städten – meist in den am schlechtesten bezahlten Jobs–, gelten aber wegen des chinesischen Melderechts nicht als Stadtbewohner. Rund 150 Millionen Menschen sind vor der ländlichen Armut in die Städte geflohen, wo sie quasi illegal wohnen, vergleichbar hierzulande mit abgelehnten Asylbewerbern, die nur kurzfristige Duldungen erhalten und jederzeit abgeschoben werden können. Ihnen wird eine Vielzahl sozialer Rechte, wie etwa der Zugang zu den rudimentären Sozialversicherungen, vorenthalten. In vielen Städten werden die Kinder der Wanderarbeiter nicht einmal von öffentlichen Schulen angenommen.

Schwerpunkt Bildung

Dieses Problem wird im Kommuniqué des ZK nicht direkt angesprochen. Die Bildung wurde allerdings zu einer der Top-Prioritäten erklärt, und so ist zu hoffen, daß auch die besonders benachteiligten Arbeiterkinder profitieren werden. Bisher werden in der Volksrepublik nur drei Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Bildung ausgegeben, während international der Durchschnitt bei fünf Prozent liegt (Deutschland 4,6 Prozent). In China werden die letzten Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen im allgemeinen für einen Fehlschlag gehalten, weil sie zu einem Anstieg der Preise geführt haben, schreibt Xinhua in einem Kommentar. Viele Leistungen seien heute für die mittleren und unteren Einkommensgruppen unbezahlbar. Die Erklärung des ZK hebt nun hervor, daß der Aufbau umfassender sozialer Sicherungssysteme sowohl für die Stadt- als auch für die 800 Millionen Köpfe zählende Landbevölkerung eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau einer »harmonischen Gesellschaft« ist.

Ansonsten wird in dem Text mehrfach betont, daß zum Aufbau einer harmonischen Gesellschaft auch die Entwicklung von Demokratie, Rechtssicherheit und der »Herrschaft des Gesetzes« gehört. Letzteres ist besonders bemerkenswert, da bisher in China nur die Rede von der »Herrschaft mittels Gesetzen« (rule by law) die Rede war und die jetzt gewählte Formulierung stets abgelehnt wurde.

Ein wichtiges Motiv für die Umorientierung auf mehr sozialen Ausgleich und stärkere Anhebung der unteren Einkommen ist sicherlich die wachsende Unruhe im Land. Die chinesischen Behörden haben vor einiger Zeit damit begonnen, Statistiken über Streiks, Demonstrationen und ähnliches zu veröffentlichen, die eine deutliche Zunahme der Konflikte zeigen. Eine Verbesserung der unteren Einkommen wird auch eine wichtige Stütze für den Binnenmarkt sein, die die chinesische Wirtschaft gegen rauhere Zeiten auf dem Weltmarkt schützen könnte.