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Same old story?


Chinas Dauer-Boom treibt die Rohstoffpreise in ungeahnte Höhen und verschafft damit vielen Ländern des Südens ökonomische Erleichterung. Doch eröffnet der Handel mit China auch eine neue Entwicklungsperspektive oder wiederholen sich nur altbekannte neokoloniale Muster? Von Wolfgang Pomrehn


Wer vor acht oder neun Jahren Westeuropäern erzählte, China würde in wenigen Jahren die Geschicke der Welt bestimmen, der erntete meist skeptische Blicke und stieß oft auf ungläubige Ablehnung. Diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen ist die atemberaubende Aufholjagd der chinesischen Volkswirtschaft in aller Munde, und der Internationale Währungsfonds warnt in seinen Halbjahresberichten bereits vor den Ungleichgewichten: Das Wohl und Wehe der Weltkonjunktur hängt an zwei seidenen Fäden, dem Kaufrausch der US-Verbraucher und dem fortgesetzten Boom im Land der Mitte.

Neue Hoffnung für den Süden

Eine bemerkenswerte Entwicklung, die in den letzten Jahren vom chinesischen Dauer-Aufschwung angestoßen wurde, ist eine drastische Verbesserung der Austauschbedingungen für jene Länder, die Rohstoffe und Agrargüter produzieren. Chinas Hunger nach Materialien aller Art hat zu einem starken Anstieg der Nachfrage auf dem Weltmarkt geführt. 2005 haben die chinesischen Importe erneut um 18 Prozent zugenommen, und das Jahr war kein Ausrutscher. Jahr um Jahr legt die chinesische Wirtschaft ähnliche Wachstumszahlen hin. Zuletzt wurden Waren im Wert von 660 Milliarden US-Dollar, etwa 550 Milliarden Euro, wenn man den gegenwärtigen Kurs zugrunde legt, eingeführt. Das meiste davon waren Rohstoffe und Vorprodukte, die in China für den Export veredelt wurden.
Angetrieben von diesem Boom bewegen sich die Preise für Erze, Metalle, Steinkohle, Koks, Erdöl und viele landwirtschaftlichen Produkte inzwischen in Höhen, wie zum Teil seit Ende der 1960er Jahre nicht mehr. Eisenerz zum Beispiel, eine wichtige Einnahmequelle des lateinamerikanischen Riesen Brasilien, hat seit 2000 um knapp 25 Prozent im Wert zugelegt (1), Kupfer um über 50 Prozent und Nickel gar um 60 Prozent. Und Steinkohle, mit der die aufstrebenden Großmächte in spe China und Indien reichlich gesegnet sind, erzielt Preise, daß selbst die Ruhrkohle AG von neuen – freilich reichlich subventionierten – Gruben phantasiert. Bei Agrarerzeugnissen und nachwachsenden Rohstoffen ist die Lage ganz ähnlich: Kautschuk zum Beispiel hat seinen Preis gegenüber dem Bezugsjahr 2000 glatt verdoppelt. Auch einige Grundnahrungsmittel wie Weizen, Rindfleisch und Sojabohnen ziehen auf dem Weltmarkt mächtig an, so daß man sich beim Welternährungsprogramm der UNO schon Sorgen macht, weil sich dadurch die Lage für die ärmsten Teile der Weltbevölkerung verschlechtert. Soja verteuerte sich zum Beispiel in den letzten fünf Jahren um rund 40 Prozent, und trägt nicht unwesentlich zu Argentiniens ökonomischer Erholung nach dem großen Crash Ende 2001 bei. Die mittlere Kaufkraft der Exporte der Entwicklungsländer ist, heißt es im statistischen Handbuch der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), zwischen dem Jahr 2000 und 2003 um 19 Prozent gestiegen. Von 1990 bis 2003 betrug die Zunahme gar 190 Prozent. Die Kaufkraft der Industriestaaten nahm in den gleichen Zeiträumen nur um sieben bzw. 98 Prozent zu.
Nur einige wenige Güter haben diesen allgemeinen Trend zur Verbesserung der sogenannten Terms of Trade der Entwicklungsländer nicht mit gemacht. Die Preise für Rohkaffee etwa verfallen weiter und bilden damit eine bemerkenswerte Ausnahme. Der Grund ist jedoch schnell ausgemacht. Der Kaffeegenuß hat in Süd- und vor allem Ostasien keine Tradition. Lediglich ein paar Yuppies, die besonders trendy erscheinen wollen, gehen in überteuerte Coffee-Shops US-amerikanischer Ketten. Zum Massenartikel reicht es nicht. Auch die Baumwollpreise bleiben zum Leidwesen einige afrikanischer Staaten trotz des Booms der Textilindustrie niedrig. Hier ist die Erklärung in den massiven Subventionen zu suchen, mit denen die USA ihre Baumwollfarmer unterstützt. Die afrikanischen Länder drängen seit Jahren in den Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO auf ein Ende diese Praxis. Bisher vergeblich. Die EU-Exporthilfen für bestimmte Agrarprodukte wirken sich übrigens auf lokale Märkte in einer Reihe afrikanischer Länder noch verheerender aus, aber das nur am Rande.
Sieht man einmal von diesen wenigen Negativbeispielen ab, so haben sich die ungleichen Tauschverhältnisse, unter denen die rohstoffproduzierenden Länder, die zumeist auch Entwicklungsländer sind, seit Jahrzehnten leiden, in den letzten Jahren erheblich verbessert. Vor allem die erdölexportierenden Staaten erhalten inzwischen ein Vielfaches an Industriegütern für ihre Exporte; und im Gegensatz zu den Zeiten hoher Ölpreise in den 1970er und frühen 1980er Jahren gibt es diesmal vielfache Anzeichen dafür, daß der warme Regen nicht nur in Konsum und Aktien, sondern auch in die Entwicklung der Länder gesteckt wird. Herausragendes Beispiel ist sicherlich Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten, das mit den Petrodollars zu einem Hightech- und Medienstandort, zum Welthandelszentrum und zur Domäne für Luxustouristen ausgebaut wird. Auch viele andere Erdölexporteure investieren in die Zukunft und haben erheblichen Anteil daran, daß die Auftragsbücher deutscher Maschinen- und Anlagenbauer prall gefüllt sind.
Entsprechend rosig sieht die Statistik aus: 2004 sind die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer um durchschnittlich über sechs Prozent gewachsen, und 2005 wird dieser Wert vermutlich über fünf Prozent gelegen haben. Im Juni 2005 stellte ein UN-Bericht fest, daß „das ungewöhnliche am gegenwärtigen Wachstumsmuster ist, daß es so viele Entwicklungsländer einschließt“. (2) Während in Europa und Japan die Wirtschaft weiter lahmt, spielt sich das Wachstum der Weltwirtschaft im wesentlichen in den Entwicklungsländern ab und geht zugleich mit einer überproportionalen Ausweitung des Warenaustauschs zwischen diesen Staaten einher. Die UN-Ökonomen sprechen gar von einem „gewissen Grad der Entkopplung“. Mit anderen Worten: Europa wird unwichtiger, der Welt kann es also nur besser gehen.

Kein Licht ohne Schatten

So erfreulich sich die Entwicklung allerdings in den Statistiken der makroökonomischen Daten ausnimmt, so ambivalent ist sie bei genauerem Hinsehen im Detail. In vielen Entwicklungsländern bedroht der Bergbau die Lebensgrundlagen der in seiner Nachbarschaft lebenden Menschen. Beim letzten Weltsozialforum, das im Januar zeitlich versetzt in Malis Hauptstadt Bamako und im venezolanischen Caracas veranstaltet wurde, protestierten zum Beispiel Minen- und Landarbeiter aus dem Süden Malis gegen den französischen Bau- und Medienriesen Bouygues, der dort Goldminen aufgekauft hat. Das giftige Quecksilber, das für das Herauslösen des Goldes aus dem Gestein verwendet wird, werde im großen Umfang an die Umwelt abgegeben. Ähnliche Geschichten gibt es von Schauplätzen rund um die Welt zu berichten, sei es die zu Papua Neu Guinea gehörende Insel Bougainville, Legazpi auf der philippinischen Insel Luzon oder Bergamon in der Türkei. Die Umweltverschmutzungen des Shell-Konzerns bei der Ölgewinnung im Nigerdelta sind inzwischen schon legendär. Überall gehen die Fördergesellschaften – meist große, international tätige Konzerne aus Europa, den USA oder Australien – ohne Rücksicht auf die Umwelt und die Lebensbedingungen der in der Nachbarschaft der Minen, Tagebaue oder Förderanlagen lebenden Menschen vor – wenn man sie gewähren läßt. Selbst in Venezuela, Hoffnungsschimmer für viele Linke in Lateinamerika und hierzulande Strohhalm für machen, der nach neuen sozialistischen Vaterländern sucht, geht es nicht ohne erhebliche Konflikte ab. Auch dort gab es anläßlich des Weltsozialforums im Januar Proteste indigener Gruppen gegen Kohlebergbau und eine geplante transkontinentale Gaspipeline, die durch Brasilien führend venezolanisches Erdgas nach Argentinien pumpen soll.
Aber auch in der Landwirtschaft haben die Auswirkungen des weltwirtschaftlichen Booms ihre Schattenseiten. In Ländern wie Brasilien und Argentinien, die im großen Stil Nahrungsmittel exportieren – Argentinien allein ernährt etwa 300 Millionen Menschen –, wird durch die hervorragenden Absatzmöglichkeiten der Großgrundbesitz gestärkt. Die Eigentümer großer Ländereien stellen in diesen Staaten – und nicht nur dort – traditionell die reaktionären Kreise der Gesellschaft, die es besonders in Brasilien gewohnt sind, ihre Interessen mit nackter Gewalt durchzusetzen. In den drei Jahren Präsidentschaft des Kandidaten der Arbeiterpartei Luiz Inácio Lula da Silva haben die Morde an Umweltschützern, Indios und Aktivisten der Landlosenbewegung MST eher noch zugenommen. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung ist der Anbau von Soja. In Argentinien dehnen die Großgrundbesitzer die Soja-Anbaugebiete immer weiter auf Kosten der Kleinbauern aus, die nicht selten durch bezahlte Pistoleros von ihren Feldern vertrieben werden. Im benachbarten Paraguay bedient man sich dazu auch des Militärs. Der in Lateinamerika bei Soja und Mais inzwischen dominierende Einsatz gentechnisch veränderter Varianten, die gegen bestimmte Pestizide resistent sind, ermöglicht zudem den flächendeckenden und ungehemmten Einsatz von Pflanzengiften, die oft aus Flugzeugen versprüht werden, ohne Rücksicht auf Menschen, die in der Nachbarschaft der Felder leben.

Ein altbekannter Teufelskreis?

Angesichts dieser Tatsachen ist es verständlich, daß einige, wie Stephan Günther im „iz3w“ (3), vor der Neuauflage eines alten Teufelskreises warnen. Er verweist auf die Gefahren, die in einer Konzentration auf den Export von Rohstoffen liegen. Die Exporteure sind von den Märkten und Konjunkturen ihrer Abnehmer abhängig und erreichen vergleichsweise wenig Wertschöpfung im eigenen Land. Das liegt in der Natur der Sache, denn das meiste Kapital entsteht aus der Veredelung der Materialien zu Industrieprodukten. Nennenswerte Kapitalakkumulation und damit dauerhafte Wirtschaftsentwicklung findet also nur dort statt, wo eine diversifizierte verarbeitende Industrie aufgebaut wird. Eben das haben die westeuropäischen Mächte und die USA in den letzten 200 Jahren in den meisten Ländern des Südens mit ihrer Handels- und Kolonialpolitik erfolgreich verhindert. Selbst formal unabhängige Staaten wurden durch diverse Kriege, wie zum Beispiel die britischen Opium-Kriege gegen China, gezwungen, ihre Grenzen für europäische und nordamerikanisch Waren zu öffnen, und gleichzeitig zu Rohstofflieferanten degeneriert. Lediglich in Ost- und Südostasien konnten sich an den Frontlinien des Kalten Krieges aufgrund besonderer Konstellationen einige Staaten aus dieser Unselbständigkeit befreien und eine eigenständige Industrialisierung erreichen.
Stephan Günther argumentiert nun in dem genannten Artikel, daß die rasch am Umfang zunehmenden Wirtschaftsbeziehungen vieler Entwicklungsländer mit der Volksrepublik – Afrikas Handel mit China hat sich in den letzten Jahren annähernd verdoppelt – lediglich eine Wiederholung alter kolonialer Muster darstelle. China exportiere industriell gefertigte Konsumgüter (Waschmaschinen, Fotoapparate, Kühlschränke, Textilien usw.), während es aus den anderen Entwicklungsländern vor allem Rohstoffe importiere. Entsprechend sei seine Handelsbilanz mit den meisten Staaten positiv. (Letzterer Aussage widersprechen allerdings die chinesischen Statistiken.) „Der alte Teufelskreis der Unterentwicklung“ beginne von neuem, zitiert Günther zustimmend die südafrikanische Gewerkschafterin Neva Makgetla. Als Beispiel führt er die afrikanischen Staaten an, von denen er auf die Gesamtheit der Entwicklungsländer schließt.
Allerdings ist sein Beispiel unglücklich gewählt und diese Verallgemeinerung sicherlich nicht zulässig. Afrika ist durch Schuldenkrise, Dürren, Bürger- und Stellvertreterkriege aller Art und nicht zuletzt den zum Teil dramatischen Verfall der Rohstoffpreise in den zurückliegenden Jahrzehnten praktisch von der weltweiten Entwicklung abgehängt worden. Unter anderem war der Kontinent am härtesten davon betroffen, daß Westeuropa und die USA in den 1970er Jahren die Schaffung von Rohstoffkartellen vereitelten, die innerhalb der UNCTAD angestrebt worden waren und die Preise im Sinne der Erzeugerländer hätten stützen können. Entsprechend fiel Afrikas Anteil am Welthandel von 5,91 Prozent im Jahre 1980 auf 2,51 Prozent im Jahre 2003. Nur die Entwicklungsländer des Nahen Osten erlitten einen größeren Bedeutungsverlust. Ihr Anteil ging von 9,89 Prozent 1980 auf 4,43 Prozent 2003 zurück. (4) Wegen des seit 2003 erfolgten Preisanstiegs des Rohöls von über 100 Prozent, dürfte sich der Anteil diese Ländergruppe am Welthandel aber wieder erheblich ausgedehnt haben.
Wegen des besonders niedrigen Industrialisierungsgrad Afrikas kann der chinesische Außenhandel mit diesem Kontinent nicht beispielhaft für die Beziehungen Chinas mit anderen Entwicklungsländern sein. Mit den meisten seiner Nachbarn zum Beispiel hat China ein Handelsbilanzdefizit, das heißt es importiert von ihnen mehr als es exportiert. Das zeigt sich unter anderem schon daran, daß die Volksrepublik zwar seit vielen Jahren einen erheblichen und stetig wachsenden Handelsbilanzüberschuß gegenüber den USA hat, insgesamt aber ihr Verhältnis von Einfuhren und Ausfuhren bis vor kurzem ziemlich ausgeglichen war. 2005 schoß der Gesamtüberschuß erstmals in nennenswerte Höhen und erreichte 101,9 Milliarden US-Dollar. Das war allerdings immer noch weniger als die Hälfte des Überschuß im Handel mit den USA. Darüber hinaus verzeichnet China auch im Handel mit der EU ein Plus. Mit anderen Worten: Unterm Strich führt das Land der Mitte im großen Maßstab Rohstoffe und Vorprodukte aus anderen Entwicklungsländern ein und verarbeitet sie in seiner boomenden Exportindustrie, mit der wiederum – gemessen an den relativen Proportionen – vor allem die Industriestaaten versorgt werden.

Kräftedreieck

Aber China führt aus Entwicklungsländern durchaus auch aufwendigere Produkte ein: Im letzten Jahr  avancierte die Volksrepublik zum Weltmarktführer in Sachen Export von Informationstechnologie. Unter anderem hat sich der chinesische Konzern Lenovo durch den Aufkauf der PC-Sparte von IBM zur Nummer drei auf dem Weltmarkt für Personal Computers und Notebooks gemausert. Die für die Hightech-Produkte benötigten Chips, besonders die der neuesten Generation, kann China jedoch noch nicht herstellen und importiert sie daher von seinen Nachbarn wie Taiwan, Singapur oder Malaysia.
Aber nicht alle Importe werden re-exportiert. China investiert rekordverdächtige 40 Prozent seines Bruttoinlandprodukts in Infrastruktur, neue Fabriken sowie in Wohn- und Bürogebäude. (In den Industriestaaten liegt diese Quote unter 20 Prozent.) Dafür wird unter anderem viel Stahl benötigt, der zum Teil importiert werden muß, weil die chinesische Stahlindustrie zwar inzwischen die größte der Welt ist, aber dennoch derzeit nicht genug Kapazitäten hat. Und aus Brasilien führt man sogar Mittelstreckenflugzeuge des Herstellers Embraer ein. Als Chinas Präsident Hu Jintao Ende 2004 das lateinamerikanische Land besuchte, wurde unter anderem ein Abkommen mit dem brasilianischen Unternehmen geschlossen, das die Errichtung eines Werks in China vorsieht. Embraer hofft, in den nächsten 20 Jahren 650 Flugzeuge auf dem am schnellsten wachsenden Luftfahrtmarkt der Welt verkaufen zu können.
Chinas Wirtschaftsbeziehungen zu den anderen Entwicklungsländern, namentlich denen in seiner Nachbarschaft, sind also bisher nicht auf die neokolonialen Muster zu reduzieren, auch wenn nicht von der Hand zu weisen ist, daß aufgrund der schieren Größe des Landes eine entsprechende Gefahr besteht. Noch sprechen allerdings auch die Kapitalströme dagegen. Jährlich werden in der Volksrepublik derzeit etwa 60 Milliarden US-Dollar an ausländischem Kapital in Unternehmen gesteckt. Ein erheblicher Teil davon – die Weltbank schätzt bis zu 30 Milliarden US-Dollar – ist in Wirklichkeit chinesisches Privatkapital, daß den Umweg übers Ausland sucht, um Steuergeschenke und andere Vergünstigungen mitzunehmen. Wenn man davon einmal absieht, dann kommt immer noch ein großer Teil dieses Geldes aus den Nachbarländern, die selbst noch zu den Entwicklungsländern zählen. Die Staaten der südostasiatischen Allianz ASEAN haben zum Beispiel 38 Milliarden US-Dollar in der Volksrepublik investiert. Chinas Investitionen in diesen Ländern summieren sich bisher auf wenig mehr als eine Milliarde Dollar.
Für einige Nachbarn wie Südkorea und Singapur ist China bereits der wichtigste Handelspartner geworden. Für Indien, dem zweiten asiatischen Giganten, dessen Volkswirtschaft ebenfalls beginnt, auf die Überholspur auszuscheren, wird das vermutlich in wenigen Jahren der Fall sein. Auf den zweiten Platz hat China es schon geschafft, und derzeit wächst der Warenaustausch zwischen den beiden Ex-Rivalen, die noch dabei sind, ihre letzten Grenzstreitigkeiten aus der Welt zu schaffen, um 30 Prozent pro Jahr. Auf beiden Seiten besteht er meist aus Industriewaren und Dienstleistungen. Auch hier also wenig von neokolonialen Abhängigkeiten in Sicht. Vielmehr könnte das besondere Kräftedreieck zwischen den beiden Giganten Indien und China sowie der ASEAN, das sich in den verschiedenen Verhandlungen über Freihandelsabkommen in der Region herauszuschälen beginnt, ein Garant dafür sein, daß das auch in Zukunft so bleibt.
Was diese Entwicklung besonders spannend macht, ist die Tatsache, daß  diese wachsende wirtschaftliche Durchdringung und die rasante Industrialisierung – die wesentlich schneller verläuft und erheblich größere Ausmaße hat, als die industrielle Revolution im Europa des 19. Jahrhunderts – sich nicht in irgend einer x-beliebigen Weltregion abspielt. In den Entwicklungsländern Süd-, Südost und Ostasiens lebt immerhin ziemlich genau die Hälfte der Menschheit, deren Gewicht in der Weltwirtschaft und damit auch auf dem diplomatischen Parkett von Jahr zu Jahr wächst: Der Anteil dieser Ländergruppe am Welthandel hat sich von 1980 bis ins Jahr 2003 von acht Prozent auf etwas mehr als 21 Prozent erhöht, und der Trend ist – angetrieben vom chinesischen und im geringeren Umfang auch vom indischen Wachstum – weiter positiv.
Das alles soll nicht heißen, daß der chinesische Boom nicht auch seine Schattenseiten für die Ökonomien der Entwicklungsländer hat. Namentlich das Ende des internationalen Quotensystems im Textilhandel zum 1. Januar 2005 brachte eine gewaltige Ausweitung der chinesischen Exporte mit sich, die Hersteller von Bangladesh über Mauritius bis nach Mexiko und El Salvador an die Wand drückte. Andererseits investieren chinesische Textilunternehmen derzeit im großen Umfang in Fertigungsanlagen in verschiedenen afrikanischen Ländern. Das schafft dort Arbeitsplätze, aber der Profit wird natürlich von den chinesischen Firmen eingestrichen und repatriiert. Chinas Diplomatie ist nämlich zwar darauf ausgelegt, gute Beziehungen zu anderen Entwicklungsländern zu entwicklen um den Rohstoffbedarf seiner Industrien zu befriedigen, seinen Energiehunger zu sättigen und einer etwaigen Isolation durch und Konfrontation mit den USA zu begegnen. Dennoch sind die Wirtschaftsbeziehungen nicht altruistisch sondern folgen den kapitalistischen Marktgesetzen.

Abkehr vom neoliberalen Modell?

Dessen ungeachtet ist China bei afrikanischen Intellektuellen als Vorbild und Entwicklungsmodell hoch im Kurs. Zu unrecht könnte man meinen, wenn man nur auf die wirtschaftsliberalen Aspekte der chinesischen Politik schaut. Immerhin hat sich die Volksrepublik sehr frühzeitig dem Freihandel verschrieben, ist 2001 der WTO beigetreten und hat ihre Entwicklung in den letzten 25 Jahren fast ausschließlich auf den Aufbau der Exportindustrien gegründet. Ganz so, wie es die neoliberale Orthodoxie des Internationalen Währungsfonds vorschlägt, die in vielen anderen Entwicklungsländern seit Beginn der 1990er so kläglich und folgenschwer gescheitert ist.
Die Tatsache allerdings, daß China Erfolg hat, und offenbar in der Lage ist, einen selbstbestimmten Weg zu gehen, macht sein Beispiel für viele attraktiv. Außerdem eröffnet Chinas Aufstieg, der mit diesem verbundene Anstieg der Rohstoffpreise sowie die rasche Ausdehnung der Handelsbeziehungen für viele Länder des Südens neue Spielräume, vermindert die Abhängigkeit von Europa und den USA. Daß dies in Lateinamerika bisher keinen intellektuellen Niederschlag findet und selbst die im Dezember 2004 angekündigten chinesischen Investitionen in Höhe von rund 100 Milliarden US-Dollar für Argentinien, Brasilien und Venezuela keine größeren Diskussionen auslösten, mag daran liegen, daß der Halbkontinent ungleich enger mit der europäisch-nordamerikanischen Kultur verbunden ist, und Beijing im Empfinden der Menschen von Buenos Aires und Sao Paulo noch weiter entfernt scheint, als von New York oder Hamburg.
Afrikanische Intellektuelle sind sich hingegen meist der gemeinsamen oder zumindest ähnlichen Geschichte in den antikolonialen Auseinadersetzungen bewußt. Bei manchem mögen auch noch Erinnerungen an die einstige Verehrung Mao Zedongs und seinen „chinesischen Sozialismus“ nachschwingen, ganz so, wie Boliviens neuer Präsident Evo Morales im Januar bei seinem Antrittsbesuch in Beijing von seiner Bewunderung für Mao schwärmte. Seine Gastgeber übergingen das mit einem höflichen Lächeln. Doch wie Morales, der seinen linken Kritikern entgegenhält, es gehe heute nicht um die Einführung des Sozialismus in Bolivien, werden sich auch die Vordenker Afrikas darüber im Klaren sein, daß die Zeiten seit der Kulturrevolution andere geworden sind.
Wenn es aber nicht darum geht, einen vermeintlichen Sozialismus zu kopieren, und wenn die neoliberalen Aspekte des chinesischen Modell es für andere Länder ungeeignet erscheinen lassen, was macht es dann noch für Afrika und manche Regierung Lateinamerikas interessant? Die Antwort darauf könnte demnächst der Nationale Volkskongreß, das chinesische Parlament, geben. Anfang März tritt er zu seiner jährlichen Sitzung zusammen, um den neuen Fünf-Jahresplan zu beschließen. Dessen herausragende Neuerung wird eine wesentliche Stärkung der chinesischen Binnennachfrage sein.
Drei Dinge treiben die chinesische Führung bereits seit einigen Jahren um: Die ungleichmäßige Entwicklung zwischen den reichen Küstenprovinzen im Osten einerseits sowie den ländlichen Regionen und westlichen Provinzen andererseits, die wachsenden sozialen Spannungen aufgrund der mangelhaften sozialen Sicherungssysteme und der tiefen Gräben zwischen Arm und Reich sowie schließlich die wachsende Abhängigkeit von der Exportwirtschaft. Die macht das Land der Mitte zum einen überempfindlich für die Weltkonjunktur und die Launen der US-Verbraucher, die bisher einen großen Teil der chinesischen Waren kaufen. Zum anderen ist manchem in Beijing mulmig bei dem Gedanken an zu große Abhängigkeit von den USA. „Wir sollten nicht zu hohe Erwartungen in die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen China und den USA hegen“, hatte schon vor drei Jahren ein Kommentator des KP-Zentralorgans gewarnt. (5) Die Abhängigkeiten seien ungleichmäßig verteilt. Soll heißen: Auf die USA, deren politische Eliten in ihrer Haltung zu China zwischen Kooperation und Konfrontation schwanken, ist kein Verlaß.
Die Antwort auf all diese Sorgen heißt Entwicklung des Binnenmarktes. Neben neuen Programmen zur Förderung der Urbanisierung in den Inlandsprovinzen, mehr Ausgaben für Forschung und Bildung – unter anderem soll zum ersten Mal seit dem Beginn der Reformen die achtjährige Grundschule auf dem Land wieder kostenlos werden – heißt das auch mehr Geld für Konsum. Verschiedene Schritte zur Verbesserung der Einkommen auf dem Land wurden bereits eingeleitet, zeigen aber nach den jüngsten Zahlen der chinesischen Statistiker bisher nur mäßigen Erfolg. Dennoch kann man es Premierminister Wen Jiabao durchaus abnehmen, daß er seine Ankündigung ernst meint, mit dem neuen Fünfjahresplan solle die Schere zwischen den Einkommen etwas geschlossen werden. Seit dem Antritt Hu Jintaos und Wen Jiabaos vor drei Jahren sprechen die beiden von dem Ziel einer harmonischen Gesellschaft, versuchen sie die Lage der von der Entwicklung vergessenen ländlichen Bevölkerung – immerhin 800 Millionen Menschen – zu verbessern, und setzen sich für Tarifverträge in der Privatwirtschaft ein.
Das alles ist noch kein Sozialismus, aber immerhin ein bißchen mehr Sozialdemokratie. Nicht umsonst unterhält die chinesische KP glänzende Beziehungen zur SPD und zur Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein bißchen weniger Friedman und deutlich mehr Keynes heißt das neue chinesische Menue, das vielleicht schon bald international Schule machen könnte. Von Buenos Aires über Caracas bis nach Pretoria kommen die neoliberalen Rezepte zunehmend aus der Mode. Und wer weiß: Vielleicht verhilft ja eine Neuauflage der nachfrageorientierten Politik, diesmal im globalen Maßstab, dem Kapitalismus zu einer neuen, ungeahnten Vitalität und einem langanhaltenden Aufschwung, der Milliarden Menschen aus dem Elend zieht. Auch das wäre natürlich noch lange nicht das Paradies auf Erden – schließlich beweist der Kapitalismus uns täglich wie wenig er den Planeten zu einer bewohnbaren Welt machen kann – aber es könnte endlich die ökonomischen und subjektiven Voraussetzungen schaffen, die eine Überwindung der Warenproduktion im globalen Maßstab erst denkbar machen.


(1) Alle Angaben über Rohstoffpreise nach UNCTAD Handbook of Statistics 2005
(2) World Economic Situation and Prospects, United Nation, New York 2005
(3) „informationszentrum 3. welt“ Nr. 287
(4) Wie (1)
(5) “The Choice of China’s Diplomatic Strategy”, in „People’s Daily“, Beijing, 19.3.2003, zitiert nach  Joshua Cooper Ramo, The Beijing Consensus