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26.10.2006 / Schwerpunkt / Seite 3

Eis auf der schiefen Bahn

Klimawissenschaftler berichten Beunruhigendes: Eisdecke hinter Spitzbergen großflächig aufgebrochen, stärkeres Ansteigen des Meeresspiegels befürchtet

Von Wolfgang Pomrehn

Während sich in einigen Gegenden Deutschlands die Menschen über den wärmsten September und Oktober seit mindestens 1901, dem Beginn der landesweiten Wetteraufzeichnungen, freuen konnten, vertiefen sich auf den Stirnen der Klimawissenschaftler die Sorgenfalten: Seit Ende der 1970er Jahre hat sich der globale Temperaturanstieg erheblich beschleunigt und beträgt nun 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt.

Auch aus dem hohen Norden – aus dem gar nicht mehr so ewigen Eis – gibt es beunruhigende Nachrichten. Kürzlich meldeten Forscher der Europäischen Raumagentur ESA, daß nördlich von Spitzbergen bereits Ende August das Eis auf einer Fläche größer als die britischen Inseln aufgerissen ist. Derlei hatte man noch nie beobachtet. Dort, wo sich gewöhnlich auch im Sommer, wenn die Sonne in der Polarregion nie hinterm Horizont verschwindet, meterdicke Eisschollen dicht an dicht drängen und eine weitgehend geschlossene Decke bilden, waren nun auf den Satellitenbildern große Öffnungen zu erkennen. »Die Situation war anders als alles, was bisher zu dieser Jahreszeit beobachtet wurde«, meinte Mark Drinkwater, der bei der ESA die Ozean- und Eis-Abteilung leitet. »Vermutlich hätte ein Schiff ohne Probleme von Spitzbergen oder Nordsibirien durch diese normaler Weise auch im August von Packeis blockierten Gewässer den Nordpol erreichen können.«

Offenes Wasser

Die Ursache sehen die ESA-Wissenschaftler in den stürmischen Bedingungen, die im August in diesem Teil der Arktis geherrscht hatten. Insofern scheint es zunächst ein zufälliges Phänomen. Die Verbindung zu globalen Klimaveränderungen ist dennoch in mehrfacher Weise gegeben. Seit den 1950er Jahren wird beobachtet, daß die Dicke des Eises über dem arktischen Ozean zurückgeht. Die Stabilität des Eises nimmt also ab und macht ein Aufbrechen wahrscheinlicher. Dafür spricht auch, daß in der Beaufort-See nördlich von Alaska im August und September eine Polynya nie gesehener Größe aufgetreten ist. Der russische Begriff bezeichnet Flächen offenen Wassers in einer ansonsten geschlossenen Eisdecke. Die beobachtete Polynya hatte sich ab Mitte August geöffnet und wuchs bis auf eine Größe von knapp 100000 Quadratkilometern an. Das arktische Eis hatte also für mehrere Wochen ein Loch von fast der Größe Ostdeutschlands. Derlei hatte man zuvor erst ein einziges Mal beobachtet, und zwar im Jahre 2000, allerdings in einer deutlich kleineren Form.

Die Beobachtungen passen zu einem allgemeinen Schrumpftrend. Seit 1978 messen verschiedene Satelliten, zum Teil per Radar, zum Teil, indem sie die Wärmeabstrahlung des Eises im Mikrowellenbereich registrieren, regelmäßig Ausdehnung, Dicke und zum Teil indirekt auch das Alter des Eises. Ein viel beachteter Wert ist dabei unter anderem die Eisgrenze im September. Irgendwann in der Zeit um den Herbstanfang erreicht das Eis – jenes Gebiet, in dem das Meer zu mindestens 15 Prozent von Eisschollen bedeckt ist – seine geringste Ausdehnung. Die sommerliche Schmelze geht zu Ende, neues Eis beginnt sich zu bilden.

Neuer Minusrekord

Seit langem beobachten Klimaforscher dieses Minimum aufmerksam und stellen fest, daß sich das Eis immer weiter zurückzieht. Nach der Jahrtausendwende hat sich der Rückgang sogar noch beschleunigt. Im letzten Jahr wurde ein neuer historischer Minusrekord beobachtet, und für kurze Zeit war so gar die Nordost-Passage praktisch eisfrei, jener legendäre Seeweg, der vom Nordatlantik entlang der sibirischen Küste zum Pazifik führt. In diesem Sommer war das Eis-Minimum geringfügig größer, lag aber immer noch weit unter dem Mittel der Jahre 1979 bis 2000. Aufgrund der Riesen-Polynya in der Beaufort-See und der Entwicklung nördlich von Spitzbergen ist allerdings im Sommer 2006 die Eisfläche so klein wie nie zuvor gewesen, und das könnte Konsequenzen für den bevorstehenden Winter haben.

Je weniger nämlich im Sommer das arktische Meer vom Eis bedeckt ist, desto mehr Wärme kann der Ozean tanken. Im Gegensatz zum Eis reflektiert die Wasseroberfläche kaum Sonnenlicht, sondern läßt die Strahlen eindringen und das Wasser erwärmen. Entsprechend setzt im drauffolgenden Winter das Gefrieren später ein. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es kein Halten mehr gibt, an dem das ganze System auf die schiefe Bahn gerät. Dann wird der Eisschwund nicht mehr aufzuhalten sein, bis der arktische Ozean im Sommer schließlich ganz eisfrei ist.

Die Folgen für das globale Klima wären dramatisch und gehen weit über das hinaus, was das Klimawissenschaftler-Gremium IPCC für das Ende des Jahrhunderts vorhersagt. Die tropischen und subtropischen Klimazonen würden sich weit in den Norden verschieben und der Meeresspiegel deutlich stärker Ansteigen, als die maximalen 80 Zentimeter. Über eine Milliarde Menschen, die in niedrigen Küstenzonen leben, müßten in den nächsten Generationen umgesiedelt werden.

Daten und Fakten: Aus dem Treibhaus

Kohlendioxid (CO2) ist das wichtigste Treibhausgas. Seine Konzentration ist seit Beginn der Industrialisierung von einst 270 ppm (parts per million) auf derzeit rund 380 ppm angestiegen. Die Zunahme beträgt derzeit etwa drei ppm pro Jahr und hat damit längst den Bereich der natürlichen CO2-Schwankungsbreite verlassen.

Temperaturanstieg: Im zwischenstaatlichen Ausschuß für Fragen des Klimawandels (IPPC, Intergovernmental Panel on Climate Change) haben die Regierungen einige hundert Forscher zusammengebracht, die in regelmäßigen Abständen den aktuellen wissenschaftlichen Konsens über den Klimawandel zusammenfassen. Der nächste Bericht wird 2007 veröffentlicht. 2001 hatte der IPCC vorhergesagt, daß sich das globale Klima bis 2100 um 1,4 bis 5,8 Grad Celsius erwärmen wird, wenn der Anstieg der Treibhausgase ungebremst weitergeht.

Meeresspiegel: Um bis zu 88 Zentimeter könnte bis zum Ende des Jahrhunderts der Meerespiegel ansteigen, wenn die Treibhausgase weiter so anwachsen, wie zur Zeit, sagen die Prognosen des IPCC. Damit wird aber auf keinen Fall das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Die Ozeane und die großen Gletscher auf Grönland und in der Antarktis reagieren nur sehr träge auf die globale Erwärmung. Mehrere hundert Jahre werden vergehen, bis sich ein neuer Gleichgewichtszustand eingespielt hat. Je nach dem wie stark die globale Erwärmung letztendlich ausfällt kann der Meersspiegel um einige Dutzend Meter ansteigen.

Verantwortlich für den Anstieg des Meeresspiegels ist zweierlei. Zum einen dehnt sich das Meerwasser aus, wenn es wärmer wird. Je tiefer die Erwärmung im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte in die Ozeane eindringt, desto höher steigt der Meeresspiegel. Das Verschwinden des Meereises auf dem arktischen Ozean leistet hingegen keinen direkten Beitrag, da es schwimmt. Das im Eis gefrorene Wasser entspricht der Menge des durch die Eisschollen verdrängten Wassers. Allerdings wird ein eisfreier arktischer Ozean das Abschmelzen des Grönlandgletschers erheblich beschleunigen. Gemeinsam mit dem westantarktischen Eisschild könnte dieser tatsächlich den Meeresspiegel um einige Dutzend Meter ansteigen lassen.

(wop)