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November 2008 

Rettungsanker China?

Asien in Zeiten der amerikanischen Krise

Von Wolfgang Pomrehn

In Kommentaren aus Lateinamerika und Südostasien über die Finanzmarktkrise klang im Spätsommer zunächst eine gewisse Schadenfreude an. "Krise? Welche Krise?" hatte noch im September Brasiliens Staatschef Lula da Silva gefragt. Andere, wie ein anonymer thailändischer Banker, den das in Bangkok erscheinenden renommierte Internet-Magazin Asia Times Online zitiert, können eine gewisse Genugtuung nicht verhehlen, dass eines der ersten US-Opfer der Krise ausgerechnet die Lehman Brothers Bank war. Die hatte nämlich seinerzeit zu den Kirchen des Neoliberalismus und den großen Profiteuren der Asienkrise gehört. 

Die Erinnerung an diese schweren zwei Jahre, als in Ost- und Südostasien die liberalisierten Finanzmärkte verrückt spielten, ausländische Fonds ihre Einlagen abzogen und Währungsspekulationen ganzen Volkswirtschaften den Teppich unter den Füßen weg zogen, sind in der Region noch sehr lebendig. Millionen verloren über Nacht ihre Arbeit und wurden meist ohne irgendeine Absicherung auf die Straße gesetzt. In Südkorea schnellten in der Folge die Selbstmordzahlen in die Höhe, in Indonesien wurde der Hunger wieder zum alltäglichen Begleiter der Armen, doch die Auslandsschulden wurden, das war oberste Bedingung für die Notkredite des IWF, bedient. 

Die Kredite hatten seinerzeit in Thailand, Indonesien, Südkorea und einigen anderen Ländern den Staatsbankrott abgewendet. Doch in diese missliche Lage waren die Regierungen nur gekommen, weil man sie zwang private Schulden zu übernehmen. Zuvor waren ihre Haushalte meist vorbildlich gewesen, sieht man einmal von den Philippinen ab. Die öffentliche Verschuldung war gering, hier und da wurden sogar Überschüsse erwirtschaftet. 

Dann wurden allerdings auf Druck der westlichen Gläubiger massenhaft private Verluste sozialisiert. Unternehmen und Privatleute hatten sich im Ausland in Fremdwährung verschuldet und waren nach dem Verfall der heimischen Währungen nicht mehr in der Lage, ihren Verbindlichkeiten nach zu kommen. Die Regierungen mussten einspringen. 

Das war in etwa so – um ein aktuelles Beispiel zu bemühen – als würde man die 320.000 Einwohner Islands zwingen, jene ausländischen Anleger auszuzahlen, deren Guthaben isländische Privatbanken verzockt haben. Ein Vielfaches des isländischen Bruttosozialprodukts wäre aufzubringen. Würde der Staat dafür in Haftung genommen, käme das Land vermutlich für eine Generation oder länger nicht aus der Schuldenfalle heraus.

Den Volkswirtschaften Ost- und Südostasiens ist es seinerzeit allerdings besser gegangen, doch nicht wegen, sondern trotz der desaströsen Kreditbedingungen des IWF. Rasch expandierende Absatzmärkte in den USA, in Europa und seit Beginn des neuen Jahrtausends vor allem auch in China sorgten für ein optimales Umfeld. Die IWF-Kredite konnten in Rekordzeit zurückgezahlt und die Krise zur Disziplinierung der zum Teil sehr kämpferischen Gewerkschaften genutzt werden.

In Südostasien fragt sich allerdings mancher, wo der IWF mit seinen Schocktherapie-Rezepten heute bleibt, wo es zur Abwechslung einmal die Machtzentren und nicht die Peripherie trifft. Seinerzeit hat man die Staaten der Region zur massiven Erhöhung der Zinsen gezwungen, um die Währungen zu stützen. Anders konnten die Auslandsschulden nicht beglichen werden, aber der ökonomische Kollaps beschleunigte sich. Der Wirtschaft wurde der Kredithahn zugedreht, öffentliche Ausgaben massiv eingeschränkt, Sozialprogramme gekürzt, Nahrungsmittelsubventionen abgeschafft. Und die weitere Öffnung der Aktienmärkte wurde erzwungen. Europäische und US-amerikanische Unternehmen konnten auf Schnäppchenjagd gehen und sich so manches Sahnestückchen einverleiben. 

Bei der einen oder anderen Neuerwerbung, wie etwa dem südkoreanischen Autobauer Daewoo, den General Motors abbekam, mag sich zwar im Nachhinein die Sahne als etwas unbekömmlich herausgestellt haben. Dennoch spricht in der Region angesichts der nationalistischen Abwehrreaktionen in Europa und den USA gegen Firmenaufkäufer aus Fernost mancher Beobachter von zweierlei Maß, das da angewendet wird.

Dass diese Frage überhaupt gestellt werden kann, zeigt jedoch, wie sich in den letzten zehn Jahren die Koordinaten verschoben haben, wie sehr der wirtschaftliche Aufschwung der zugleich mit einer atemberaubenden regionalen Integration einher ging, die Koffer asiatischer Konzerne und Staatsfonds gefüllt hat, so dass diese heute daran denken können, in den alten Zentren auf Shopping-Tour zu gehen. Zu Zeiten der Asienkrise 1997/98 konnte von wirtschaftlicher Integration der Region kaum die Rede sein. Die Abhängigkeit von den überseeischen Absatzmärkten war vollkommen. Selbst bei den Mitgliedern der Südostasiatischen Staatenallianz ASEAN rangierten die jeweiligen Nachbarn unter den Handelspartnern unter "ferner liefen", während der Löwenanteil der Exporte nach Westeuropa und Nordamerika ging. Zur ASEAN gehören Myanmar (Burma), Brunei, Laos, Kambodscha, Malaysia, Vietnam, Thailand, Indonesien, Philippinen und Singapur.

Doch 2005, dem letzten Jahr aus dem beim ASEAN-Sekretariat Zahlen vorliegen, hatte sich das Bild bereits deutlich geändert. Nur noch etwa 20 Prozent des Handels von immerhin zusammen etwa 1,4 Billionen US-Dollar wickelte die Staaten der Allianz mit den USA oder der EU ab. Immerhin etwa 25 Prozent der Waren wurden untereinander ausgetauscht, 12,6 Prozent mit Japan, 9,3 Prozent mit China, etwa neun Prozent mit anderen Ländern der Region. Bei einem derart diversifizierten Außenhandel haben die Länder Südostasiens also vielleicht eine Chance, nicht allzu tief in den Strudel der amerikanischen Krise hineingezogen zu werden. 

Die Aktienkurse an den Börsen Seouls, Hongkongs oder auch Singapur gaben allerdings im Oktober wenig Grund zum Hoffen. Der Kursverfall war zum Teil noch dramatischer als in Europa. Ob davon allerdings auch die Realwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird, wird vor allem davon abhängen, wie es in China weitergeht.

Am 9. November verkündete Peking ein Konjunkturprogramm. Umgerechnet 460 Milliarden Euro sollen in den nächsten zwei Jahren für Infrastruktur, sozialen Wohnungsbau, den Aufbau von Sozialversicherungen und Steuernachlass für Industriebetriebe aufgewendet werden. Erklärtes Ziel: Den Binnenmarkt als Ersatz für die wegbrechenden Exporte entwickeln. Sollte es China wie während der Asienkrise schaffen, ein Wirtschaftswachstum von sieben bis acht Prozent aufrecht zu erhalten – zuletzt expandierte die Wirtschaftsleistung um 9,9 Prozent – dann werden sicherlich auch seine Nachbarländer erheblich profitieren. 

Doch man sollte den Aufstieg der Schwellenländer nicht mit einem Ende der bitteren Armut und des Hungers verwechseln. Entgegen den Verheißungen der Propheten des freien Welthandels hat die enorme Expansion des Welthandels in den letzten 15 Jahren kaum etwas an dem Elend in der Welt geändert. Bestenfalls von China noch lässt sich behaupten, dass dort Armut und Hunger zurückgegangen sind. Andererseits gehört die Volksrepublik aber zu den Ländern mit den tiefsten Gräben zwischen Arm und Reich, da der neue Wohlstand sich bisher überproportional auf eine kleine Minderheit in den Städten konzentriert. 

In Indien sieht es noch viel schlimmer aus. Dort hat weder das beachtliche Wirtschaftswachstum der letzten Jahre noch die Beteiligung der parlamentarischen Linken an der Regierung in jüngster Zeit den grassierenden Hunger gelindert. Über 200 Millionen Menschen, mehr als ein Fünftel der weltweit Unterernährten, haben in der "größten Demokratie der Erde" regelmäßig nicht genug zu essen. 

Dort wie in Afrika und eventuell auch in Lateinamerika wird sich durch die Krise die Situation in den nächsten Monaten weiter verschlechtern. Die UN Agrarorganisation FAO befürchtet, dass die Turbulenzen und der derzeitige Rückgang der Preise schon in einem Jahr zu einem Rückgang der Produktion und damit zu einer erneuten Preisexplosion führen. Selbst wenn also die alte Trennung zwischen Nord und Süd mittelfristig ihre Bedeutung verliert, so kann man leider sicher sein, dass das Elend dadurch nicht weniger wird.