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Das Ende vom Ende der Geschichte
Die Weltbank zieht Bilanz. Von Wolfgang Pomrehn, jW, 31.12.1998
Kommt sie nun, oder kommt sie nicht, die Weltwirtschaftskrise?
Während die deutsche Öffentlichkeit dieser Frage gerne
ausweicht, wird sie andernorts immer wieder mal gestellt. Z. B. in
Washington: Im Dezember legte die Weltbank ihren Jahresbericht 1998
vor. Der kommt zwar nicht gerade als ein Alarmruf daher, versucht
vielmehr, Optimisimus zu verbreiten, läßt es allerdings auch
nicht an Warnungen fehlen. Insgesamt werden günstige Prognosen in
den Vordergrund gestellt, doch die beschränken sich auf die
Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas. Der Rest, vor allem die
sogenannten Entwicklungsländer, zu denen die Banker inzwischen
auch Rußland zählen, wird auf jeden Fall zu den Verlierern
der Krise gehören.
Die Abschwächung der Weltkonjunktur wird sich nach Ansicht der
Washingtoner in der Periode 1998 bis 2000 vor allem in dieser
Ländergruppe schmerzlich bemerkbar machen. Die implodierende
Nachfrage in den sogenannten »Newly Industrialized
Countries« Ost- und Südostasiens, nicht zuletzt in Japan und
Südkorea, das gerade erst den Sprung in die OECD geschafft hatte,
setzt bereits die Rohstoffpreise unter Druck und verbilligt damit die
Hauptexportartikel der armen Länder. Zusätzliche Probleme
entstehen ihren Volkswirtschaften durch den Abfluß
»scheu« gewordenen Kapitals. Einige Regierungen, wie etwa
die brasilianische, versuchen, das finanzielle Austrocknen durch
drastische Anhebung der Zinsen zu verhindern, drehen damit aber nur der
heimischen Wirtschaft den Kredithahn zu.
Selbst unter den günstigsten Annahmen wird sich also, so der
Bericht, das Wachstum 1999 in diesen Volkswirtschaften kaum erholen. Im
Krisenjahr 1998 war es bereits auf zwei Prozent zurückgegangen,
was gegenüber dem Vorjahr mehr als eine Halbierung ist - der
größte Rückgang in über 30 Jahren. Die positiveren
Voraussagen für den reichen Norden (bzw. Nordwesten) fußen
zum einen auf dem Verfall der Rohstoffpreise - nicht zuletzt dem des
Erdöls -, zum anderen auf der starken Binnenkonjunktur der USA und
der EU. Doch dahinter verbergen sich viele Unwägbarkeiten. Auf
jeden Fall, so Weltbank-Chefökonom Joseph E. Stieglitz, ist die
Lage ernst: »Was in der Erwartung vieler nicht mehr als eine
kurze Irritation war, hat sich zu einer erheblichen Bedrohung für
die Stabilität der Weltwirtschaft entwickelt.«
Japans Rezession
Sorgen machen den Ökonomen vor allem Brasilien und Japan. Die
zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt kämpft mit einer
Bankenkrise. Fast eine Billion US-Dollar (also fast eintausend
Milliarden Dollar oder fast eine Million Millionen Dollar) ungedeckte
Kredite haben Nippons Geldinstitute angehäuft, seit Anfang der
90er der Immobilienmarkt zusammenbrach. Im November letzten Jahres
wurde das offenbar, als viele renommierte Institute in
Zahlungsschwierigkeiten kamen. Inzwischen befindet sich die Wirtschaft
in einer ausgewachsenen Rezession, was um so schwerer wiegt, als das
damit die übrigen asiatischen Krisenländer Absatzprobleme auf
ihrem wichtigsten Exportmarkt bekommen. Japans Regierung hat derweil
ein milliardenschweres »Rettungspaket« geschnürt. U.
a. soll der Einkommenssteuer-Höchstsatz von 65 auf 50 Prozent und
die Unternehmenssteuer von 46 auf 40 Prozent gesenkt werden.
Doch ein Aufschwung ist nicht in Sicht. Taichi Sakiya, Chef der
japanischen Planungsbehörde, geht laut »South China Morning
Post« davon aus, daß »Japan auch im nächsten
Jahr kein Wirtschaftswachstum erleben wird.« Im laufenden
Geschäftsjahr, das im März zu Ende geht, werde die
Ökonomie um mehr als 0,8 Prozent schrumpfen. Nichts deute bisher
auf eine Trendumkehr hin.
Brasilien unter Druck
Auch in Brasilien, dessen Börse durch die Krise in Rußland
unter Druck gekommen ist, und das nun mit Kapitalflucht zu kämpfen
hat, strickt man unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds
(IWF) an einem »Rettungspaket«. Nach alten IWF-Rezepten
wurden im August die Zinsen auf 50 Prozent heraufgesetzt. Die Kosten,
die inländischen Kreditnehmern dadurch entstanden, werden auf
fünf Milliarden Dollar pro Monat geschätzt. Außerdem
legte die Regierung ein Sparprogramm auf, das bis 2002 80 Milliarden
US-Dollar einbringen soll. U. a. wollte man die Beiträge der
Staatsangestellten zur Rentenversicherung von elf auf 20 Prozent
erhöhen, was allerdings Anfang Dezember im Parlament scheiterte.
Die New Yorker Aktienhändler reagierten prompt nervös und
befürchteten neue Schockwellen für die Börsen rund um
den Globus. US- Banken haben in dem Tropenland immerhin runde 27
Milliarden Dollar an Außenständen und zeigen daher ein
besonderes Interesse daran, daß die Regierung in Brasilia die
Bedienung der Schulden garantiert.
Aber auch um den Warenabsatz muß man in Nordanerika
fürchten, wenn der Halbkontinent weiter in die Krise gleitet. 40
Prozent der US-amerikanischen Exporte werden in Lateinamerika
abgesetzt. Nun ist die Welthandelsmacht nicht so exportabhängig
wie die Exportmacht Nummer zwei, Deutschland. Nur 8,5 Prozent des
Bruttoinlandprodukts wurden 1996 im Außenhandel erwirtschaftet,
während es zwischen Rhein und Oder 22 Prozent waren.
Doch um die Konjunktur ins Stolpern zu bringen, dürfte es
vielleicht schon reichen, und dann könnte sich erweisen, daß
der Boom der letzten Jahre auf Sand gebaut war. Am 21. November warnte
der Londoner Economist, daß in den USA »der private
Verbrauch in den letzten vier Jahren fast doppelt so schnell wie das
Einkommen gewachsen ist«. Die Verbraucherverschuldung habe
Rekordwerte erreicht. »Der beste Beweis dafür, daß das
nicht auf Dauer so weiter gehen kann, ist, daß im September das
Vermögen privater Haushalte zum ersten Mal seit 60 Jahren negativ
war.« Einen ersten Dämpfer könnte die boomende
Nachfrage bekommen, wenn sich das »amerikanische Jobwunder«
seinem Ende zuneigen sollte. Noch ist die offizielle Arbeitslosenrate
mit unter fünf Prozent niedrig. Doch am 18. November meldete das
»Wallstreet Journal«, daß im Oktober ca. 92 000
Beschäftigte aufgrund von Fusionen und Exportrückgang ihren
Job verloren haben. Das, so das Wirtschaftsblatt, war ein 33-
Monats-Hoch. Auch viele Unternehmen haben sich, berichtet der
Economist, in Erwartung weiter steigenden Absatzes zur Finanzierung von
Investitionen stark verschuldet.
Die US- Notenbank hatte bereits Anfang Juli amerikanische Geldinstitute
gewarnt, vorsichtiger mit der Kreditvergabe zu sein, da sich die
Kojunktur abkühle. Das war vor dem Crash in Rußland und
Brasilien. Inzwischen zieht die Krise weitere Kreise, und in den USA
beginnt man zu fürchten, daß die riesigen Summen, die
japanische Privatleute und Unternehmen in US-Staatsanleihen gesteckt
haben, ihren Weg zurück nach Nippon suchen, denn dort treibt die
Enge auf dem Kreditmarkt tendenziell die Zinsen nach oben. Der
US-Wirtschaft könnte das einen zusätzlichen Stoß
versetzen. Eine weitere dunkle Wolke zieht am Horizont der
Profiterwartungen auf. Buisness Week berichtete in seiner Ausgabe vom
23. November, daß die Gewinne der 900 führenden
amerikanischen Unternehmen im dritten Quartal gegenüber dem
Vorjahr um vier Prozent zurückgegangen sind.
Zyklische Krise?
Deutschland und den anderen EU-Staaten sagt man für
gewöhnlich Resistenz gegen den asiatischen Virus nach - der in
Wirklichkeit eher nach einer der ganz normalen zyklischen Krisen des
Kapitalismus aussieht als nach einer exotischen Grippe. Nur drei
Prozent des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft werden im Handel mit
Asien erwirtschaftet. Elf Prozent der deutschen Exporte gehen in die
Region, aber darunter ist auch der Handel mit China subsumiert, der
nach wie vor kräftig expandiert. Dennoch ziehen auch am deutschen
Konjunkturhimmel bereits die ersten Wolken auf: Der Export geht
inzwischen zurück, nachdem er im ersten Halbjahr '98 noch um
über zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr zugelegt hatte.
Beim Deutschen Industrie- und Handelstag macht man schon einmal
vorsorglich die neue Bundesregierung für die erwartete Flaute
verantwortlich, doch die realistischere Annahme dürfte die sein,
daß die Ansteckung den Weg über die USA finden wird. Die
spielt für die europäische Wirtschaft eine wesentlich
größere Rolle als Asien. Bricht erst einmal die
amerikanische Verbrauchernachfrage zusammen, wird man es auch in
deutschen Werkhallen zu spüren bekommen. D. h. zu spüren
werden es Arbeitende und Arbeitslose bekommen. Denn eins ist sicher:
Diejenigen, die hierzulande mit bedenkenloser Kreditvergabe die
Spekulationsblase in Thailand aufgeblasen haben, die seelenruhig
zusahen, wie sich südkoreanische Privatunternehmen bis über
die Ohren verschuldeten, werden die Krisenfolgen nicht zu tragen haben.
Mitte 1997 hatten deutsche Banken in Indonesien, Malaysia,
Südkorea und Thailand 29,6 Milliarden US-Dollar an Krediten offen.
In Rußland sind deutsche Banken mit ca. 30 Milliarden US-Dollar
die mit Abstand größten Gläubiger. Doch diese Schulden
werden bezahlt. Dafür sorgen die Kredite des IWF, der die
Regierungen zwingt, die privaten Verbindlichkeiten zu sozialisieren.
Der Preis: Zerrüttete Staatsfinanzen, Streichungen bei Bildung und
Soziales, massenweise Bankrotte kleinerer Unternehmen wegen
Kapitalmangel und hoher Zinsen, Massenarbeitslosigkeit.
Bemerkenswert am Weltbank-Bericht ist, daß er die IWF- Programme
wegen eben dieser Folgen kritisiert. Die Maßnahmen seien
kontraproduktiv gewesen. Die vom Fond vorgeschlagene Politik der hohen
Zinsen und geringen Staatsausgaben habe in Zeiten einbrechender
privater Investitionen krisenverschärfend gewirkt und hätte
es noch weiter, wären einige Länder nicht, wie Malaysia, bald
mit großen öffentlichen Investitionsprogrammen vom
neoliberalen Dogma abgewichen. Inzwischen seien die Zinsen wieder
nahezu auf dem Vorkrisen-Niveau, doch die Liquiditätskrise
hält an.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, daß in
diesem Jahr in Indonesien die Wirtschaft um 15 Prozent geschrumpft ist,
in Thailand 6,5 Prozent, in Südkorea um fünf und in Malaysia
und Hongkong um drei bis vier Prozent. Die ILO-Studie hält es
für unrealistisch, daß die Region kurzfristig wieder zur
Vollbeschäftigung zurückkehren wird.
Die Antwort der Weltbank darauf ist eine Abkehr von der
Austeritätspolitik. Soziale Sicherungsnetze müssen her,
forderte WB-Präsident Wolfensohn bereits auf einer Sitzung des
Instituts im Oktober. In dramatischen Bildern beschrieb er die Lage der
Armen und forderte »Schutz für die unschuldigen
Opfer«. Die ILO spricht von einem »New Deal«. Wie in
der großen Depression der 30er müsse die asiatische Krise zu
einem neuen Gesellschaftsvertrag und einem neuen Entwicklungsmodell
führen, die die Betonung mehr auf das Soziale und Arbeiterrechte
legen.
Die Welt braucht, so Wolfensohn, »eine neue, partnerschaftliche
Herangehensweise«, die, geführt von den Regierungen und
Parlamenten der betroffenen Länder, die Zivil-Gesellschaft mit
einbindet. Entwicklung könne nicht stabil sein, wenn sie Arme,
Frauen und indigene Minderheiten ausgrenze. Der jüngste Bericht
fordert gar, das »ein substantieller Anteil der Umstrukturierung
von jenen getragen wird, die am meisten profitiert haben, z. B. den
Anteilseignern von Banken und den Managern«. Doch daß das
bestenfalls indonesische oder südkoreanische Geschäftsleute
meinen wird, dafür werden schon die realen Machtverhältnisse
sorgen. Natürlich stellt der Weltbank-Chef nicht den Kapitalismus
in Frage. Nicht einmal die Liberalisierung des Welthandels kritisiert
er. Einzig den kurzfristigen Kapitalverkehr will der IWF-Kritiker
beschränkt sehen und ein bißchen mehr Kontrolle in den
Gläubigerstaaten bei der Vergabe von Krediten.
Knochen für Koreaner
In diesem Licht gesehen übersetzt sich die Forderung nach einer
Einbindung der Zivilgesellschaft in eine neue Variante eines alten
Modells: Sozialpartnerschaft. Die Spitzen von Gewerkschaften und
Basisorganisationen sollen eingebunden werden, den Armen soll ein
bißchen gegeben werden, damit sie nicht verhungern, oder genauer:
Damit der Hunger sie nicht zu Verzweiflungstaten treibt. Bei all dem,
so der Bericht, muß die Öffnung weitergehen. Vor allem im
Falle der Direktinvestitionen würden die Vorteile überwiegen.
Fragt sich nur, für wen: In Südkorea führten z. B. der
Verfall der Aktienkurse, Kapitalknappheit und vom IWF erzwungene
Öffnung der Börse für Ausländer dazu, daß
sich Commerzbank, BASF und FAG Kugelfischer in nur einem halben Jahr
mit insgesamt zwei Milliarden DM einkaufen konnten. Dabei haben sie
sich, wie der Direktor der Deutsch- Koreanischen Industrie- und
Handelskammer betont, die Filet-Stücke herausgeschnitten. Der
Knochen bleibt für die Koreaner.
Diese Momentaufnahme gibt auch einen Hinweis darauf, wie die
Krisengewinnler heißen werden: Ob Europa nun mit in den Strudel
gerissen wird oder nicht: Auf jeden Fall werden wir in den
nächsten Jahren eine neue Runde in der Neuaufteilung des Planeten
und seiner Märkte erleben, sicherlich auch in den
Klassenkämpfen. Das scheint auch einem Francis Fukuyama zu
dämmern, der als politischer Berater George Bushs einst das Wort
vom »Ende der Geschichte« geprägt hatte. »Die
letzten Monate sind die ersten seit dem Beginn des Jahrzehnts, in denen
ich spürte, daß ich falsch gelegen haben könnte«,
gestand er vor kurzem der »New York Times«.