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Im Dezember 1999 fand im US-amerikansichen  Seattle die dritte Ministerkonferenz der WTO statt. (Diese Konferenzen werden im Dreijares-Rhythmus veranstaltet, die letzte war 2006 in Hongkong.) Aufgrund massiver und sehr breit getragener Proteste gelangte die WTO zum ersten Mal ins Bewußtsein  einer größeren internationalen Öffentlickeit. Wie üblich hielten sich die Medien vor allem an den Bildern der "Straßenschlachten" fest. In Wirklichkeit handelte es sich allerdings um nichts weiter als eine Aktion einer entfesselten, paranoid reagierenden Staatsmacht, die mit brachialer Gewalt gegen zu 99 Prozent friedliche Demonstranten vorging, bis sich edlich eine kleine Minderheit von diesen zu wehren begann. Seattle gilt als einer der  Startpunkte der internationalen globalisierungskritischen Bewegung, wobei derlei Festlegungen natürlich immer recht subjektiv sind.
Nachfolgend eine Sammlung von Artikeln, die ich über die Proteste aus Seattle geschrieben habe. Andere Beiträge, die sich schwerpunktmäßig mit den Verhandlungen beschäftigen, finden sich hier.
Die
LinX veröffentlichte seinerzeit eine Sondernummer mit Artikeln von mir aus Seattle.

Die meisten der hier wiedergegebenen Beiträge erschienen im Neuen Deutschland, allerdings nicht unbedingt in der gleichen Form. Da das ND seinerzeit noch nicht online zu lesen war, habe ich keinen Zugriff auf die readktionell bearbeiteten Texte. Deswegen sind hier die von mir geschriebenen Manuskripte zu finden. (Ich bitte Tippfehler zu entschuldigen.)
Da ich das Veröffentlichungsdatum nicht  mehr nachvollziehen kann, ist bei den ND-Beiträgen jeweils das Datum (bezogen auf MEZ) angegeben, an dem die Beiträge geschrieben wurden, . 


28.11.1999

Dank der WTO globalisiert sich der Protest

Von Wolfgang Pomrehn
„Wer hatte bloß diese Idee mit der WTO?“ Die Schlagzeile prangt dick über der Freitagausgabe der „Seattle Times“. Irgendwie hatten sich Seattles Stadtrat, Bürgermeister und Geschäftswelt die Sache etwas anders vorgestellt, als sie Regierungsvertreter aus aller Welt in die Hafenstadt im Nordwesten der USA einluden. Rund 5000 Diplomaten, Minister und Lobbyisten tagen ab dem morgigen Dienstag in der Handels-Metropole, doch sie werden nicht die einzigen Gäste in der Boing- und Microsoft-Stadt sein.
In den vier Jahren ihres Bestehens hat sich die Welthandelsorganisation WTO rund um den Globus zahllose Gegner gemacht und nicht wenige davon haben sich zu Protesten gegen die Folgen der Globalisierung und die weitere Liberalisierung des Welthandels angekündigt. Menschenketten sind geplant, Blockaden und eine Demonstration zum Auftakt der Ministerkonferenz, zu der Gewerkschaften, Umweltschützer und Bauernverbände mindestens 50.000 Teilnehmer erwarten. Seit Monaten bereitet sich die hiesige Polizei, die auf den Namen SPD (Seattle Police Department) hört, auf den Großeinsatz vor. Polizeibeamte werden im Umgang mit Demonstranten geschult, Container für Arresthäftlinge bereitgestellt. Die Stadt, so fürchten die einen und hoffen die anderen, wird für die vier Tage der Konferenz im Verkehrschaos versinken. Die Einzelhändler der City, in deren Herzen die Hotels der Delegierten und der Tagungsort liegen, wissen nicht recht, ob sie sich über die zusätzliche potenzielle Kundschaft freuen sollen, oder ob diese nicht eher die Bevölkerung verschreckt und das Weihnachtsgeschäft verdirbt.
Einer ist bestimmt nicht zum Shoppen gekommen: Sanjay Mangala Gopal, nationaler Koordinator der indischen Allianz der Volksbewegungen. Ende Oktober startete er in New York 20 Gleichgesinnten aus Israel, Großbritannien, Bolivien, Venezuela und anderen Ländern zu einer Karawane quer durch die Vereinigten Staaten. In rund zwei Dutzend Städten wurde Halt gemacht, um auf Veranstaltungen über den Widerstand gegen die WTO aufzuklären und für die Aktionen in Seattle zu mobilisieren. „Für uns geht es um unser Überleben“, schildert er in Seattle die Situation der Bauern und vieler Kleinbetriebe in seinem Heimatland. „Die Öffnung des indischen Marktes seit Beginn der 90’er für billige Importwaren zerstört die lokalen Märkte und die Einkommensgrundlage von Millionen Menschen.“
Die WTO und der Freihandel, ist sich Sanjay mit vielen Tausenden einig, die in diesen Tagen zu Konferenzen, Tagungen, Parties und Happenings in der Stadt zusammenkommen, dient nur den Interessen der großen Konzerne der reichen Staaten. Eine gute Seite kann er der Globalisierung allerdings abgewinnen: „Dank der WTO globalisiert sich auch der Widerstand. Vor 15 Jahren haben wir noch gedacht, es reicht, wenn wir uns auf die lokale Ebene beschränken. Aber heute wissen wir, dass wir uns international zusammenschließen müssen.“ Seine Organisation, ein Zusammenschluss von mehr als 150 Bauern-, Fischer- und Umweltschutzorganisationen, kämpft in Indien nicht nur gegen die verheerenden Auswirkungen des WTO-Regimes, sondern auch gegen Staudämme und das Kastensystem, gegen Nukleartests und den wachsenden Kommunalismus, der die Religionen gegeneinander ausspielt.
Wir treffen Sanjay im „Denny’s“, dem Anlaufpunkt des Direct Action Network. Umweltschützer und Bürgerrechtler aus dem ganzen Land haben für die WTO-Tagung ein Netzwerk gebildet, um ihre Aktionen zu koordinieren. Es herrscht reges Kommen und Gehen. Junge Aktivisten aus anderen Städten kommen an und müssen auf Schlafplätze verteilt werden. Kleingruppen beraten ihre Aktionen, mit denen die Konferenz behindert werden soll. In Workshops wird gewaltfreies Verhalten in Konfliktsituationen geübt und in einem Jail-training einstudiert, wie man bei einer Verhaftung den Beamten möglichst lästig wird. „No walk, no talk“ lautet die Devise, erklärt Tim, der uns durch die Räume führt; „Nicht gehen, nicht reden.“ Konzepte der Bürgerrechtsbewegung der 60er: Mit zivilen Ungehorsam gezielt Gesetze brechen, um staatliche Allmacht in Frage zu stellen. Am Dienstag, wenn die Delegierten aus den Hotels zum Tagungsort fahren, so die Planung, sollen mit Happenings und Kleinaktionen die Straßen versperrt werden. Manches erinnert an den Widerstand gegen Atomtransporte in Gorleben: Einige Gruppen wollen sich an Betonklötze anketten, andere Fesseln sich in langen Ketten aneinander, um die Kreuzungen zu versperren. Alles soll gewaltfrei bleiben, doch ob die Polizei das zu würdigen weiß, ist man sich nicht sicher. Per Life-Übertragung und Video-Projektion an eine Hochhausfassade sollen Übergriffe öffentlich gemacht werden.
Eine Menschenkette anderer Art ist für Montagabend geplant: Die Erlaß-Jahr-Kampagne Jubilee 2000, die Schuldenstreichung für die ärmsten Länder fordert, will mit einer Menschenkette den Eröffnungsempfang umzingeln. 10.000 Teilnehmer erwarten die Veranstalter, die wie in Deutschland vor allem aus kirchlichen Kreisen kommen.
„Demonstrationen solchen Ausmaßes“, schreibt die „Seattle Times“, „hat die Stadt seit dem Einmarsch in Kambodscha nicht mehr erlebt.“ Das „Wall Street Journal“ erwartet gar die „Mutter aller Proteste“. Den Aktivisten machen die Sorgen des Establishments Hoffnungen, um so mehr, als letzte Woche in Genf die Vorverhandlungen gescheitert sind. Die Minister werden sich am Dienstag auf ihren Tischen weder eine Tagesordnung noch den Entwurf eines Resolutionstextes vorfinden. Die Organisatoren der Proteste wie auch das International Forum on Globalisation, das am Wochenende eine von 2000 Teilnehmern besuchte Konferenz abhielt, sind daher guter Dinge, dass öffentlicher Druck und interne Widersprüche die Verhandlungen zum Platzen bringen könnten.


1.12.1999

"Das ist wie damals"

Von Wolfgang Pomrehn
Seattle am Eröffnungstag der WTO-Konferenz: Tränengasschwaden ziehen durch die Straßen, Polizisten - mit Helm, Gasmaske und Plastikpanzerung wie kleine Ein-Mann-Festungen anmutend - treiben Demonstranten vor sich her, hier und da brennende Müllcontainer, umgeworfene Zeitungsboxen und zerbrochene Schaufensterscheiben. Am Abend ruft der Bürgermeister den Notstand aus. Die ganze Innenstadt der Handelsmetropole an der kanadischen Grenze wird zum Sperrgebiet erklärt. Ab 19 Uhr dürfen Tausende von Anwohner und Hotelgäste die Häuser nicht mehr verlassen. Selbst die Nationalgarde wird in die Stadt gerufen.
Dabei hatte alles ganz friedlich angefangen. Schon am frühen Morgen zogen Tausende auf die Straßen und vor allem die Kreuzungen rund um das Seattle Convention Center, wo die Welthandelsorganisation tagt. Junge Aktivisten fesselten sich, Hände und Unterarme in Röhren mit Handschellen zusammen, um so die Kreuzungen zu blockieren. Ziel: Den Delegierten soll der Weg zum Tagungsort versperrt werden.
Überdimensionale Fingerpuppen werden durch die Straßen getragen, „Mutter Erde“ z.B. oder ein Gerippe, das die Gier der großen Konzerne darstellt. Große Schmetterlinge sind zu sehen, die an die Monarchfalter erinnern, die dem genmanipulierten Mais des US-Agroriesen Monsantu zum Opfer gefallen sind. Auch einige Dutzend als Meeresschildkröten verkleidete Demonstranten, die an den Spruch des WTO-Schiedsgericht gegen die Schildkrötenschutzgesetze der USA erinnern. Auf leeren Eimern und Kanistern werden heiße Rhythmen getrommelt. Einige tanzen.
Es sind vor allem jungen Menschen aus Umweltschutz- und Bürgerrechtsgruppen, die sich schon am frühen Morgen aufgemacht haben. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen, einige sprechen von 6000, andere gar von 10000. Auch ältere mischen sich unter die Demonstranten. John z.B., Handwerker, Vietnamveteran und Mitglied der amerikanischen Grünen. „Für mich ist corporate fascism (Konzern-Faschismus) das gleiche wie politischer Faschismus“, drückt er die Ängste vieler Demonstranten aus. Ein Transparent sagt es in anderen Worten „No Globalisation without Representation“, keine Globalisierung ohne demokratische Vertretungen. Eine Anspielung auf den Unabhängigkeitskrieg gegen England. Die Befürchtung, dass eine unkontrollierbare Weltorganisation nationale Parlamente entmachten könnte, ist an diesem Tag von vielen Demonstranten zu hören.
John ist trotzdem begeistert: „Das ist wie damals, während des Vietnamkriegs. Erst waren es auch nur die Hippies, die dagegen demonstriert haben. Später haben auch die hard heads, die Arbeiter mitgemacht. Heute ist genauso.“ Stimmt, gerade zieht ein Transparent der Stahlarbeiter an uns vorbei. „Wir unterstützen die Waldarbeiter“, ist zu lesen. „Der Kahlschlag der alten Wälder“, erklärt ein knorriger Vollbart, „zerstört nicht nur die Umwelt, sonder auch ihre Jobs.“
Die Polizei ist nur in geringer Manschaftsstärke aufgefahren, dafür aber in martialischer Ausrüstung, die nichts gutes erwarten läßt. Und richtig. Schon bald versucht man hier und da, den Weg frei zu machen. Die Beamten probieren gar nicht erst, die zum Teil auf den Boden sitzenden wegzutragen, oder die Menge mit sanftem Druck abzudrängen. Nach kurzer Räumungsaufforderung wird Tränengas in die friedlich Menge geschossen. Aus nächster Nähe wird Menschen CS-Gas ins Gesicht gespritzt. Mit langen Holzknüppeln stechen Polizisten gezielt in Nieren und Unterleib der am Boden sitzenden.
Doch noch bleibt die Situation im Großen und Ganzen ruhig, bei einigen wenigen Geschäften gehen die Scheiben zu Bruch. Ziel der Wut einiger Dutzend Maskierter: McDonalds-Imbisse und Starbucks Café, eine Kette, die kleine Familienbetriebe verdrängt. Gegen 13 Uhr treffen die Demonstrationszüge des Gewerkschaftsverband AFL/CIO, der Studenten und der Farmer in der Innenstadt ein. Von 35000 bis 50000 reichen die Schätzungen. Jetzt wird es auch internationaler: Französische Kleinbauern sind dabei, Filipinos, Umwelt- und Verbraucherschützer aus Südkorea, indische Kirchenvertreter, lateinamerikanische Aktivisten. Seattles Hafenarbeiter, die berühmten Longshoremen streiken an diesem Tag genauso, wie die Arbeiter bei Boing, um an der Kundgebung teilzunehmen.
Die Stimmung ist kämpferisch. Hier und da fordert ein Plakat Freiheit für Mumia Abu Jamal, des afro-amerikanischen Bürgerrechtlers, der seit Jahren in der Todeszelle sitzt. Andere fordern das Ende der Blockade Kubas. Ein Transparent verkündet: „Wir sind Bürger, nicht Konsumenten.“
Als die Gewerkschaftsdemonstration wieder abgezogen ist, eskaliert die Situation langsam. Die Delegierten sind längst am Tagungsort, als die Polizei beginnt,  die Straßen rund um das Kongresszentrum freizumachen. Jetzt kommen auch Gummigeschosse zum Einsatz gegen die immer noch überwiegend friedliche Menge. Mitunter werden Tränengasgranaten direkt auf Personen abgeschossen.
Die Gewalt der Polizei animiert einige extrem junge Demonstranten offensichtlich zur Nachahmung. Mehr Schaufenster gehe zu Bruch. Ein Starbuck Café wird geplündert. Aus Zeitungen, Müll und Straßenabsperrungen werden ein paar Feuer angezündet.
Gegen abend hat die Polizei es endlich geschafft: Hier und da gibt es ein paar kleine Scharmützel mit Demonstranten. Doch die vielen Zehntausend sind längst Zuhause und auch das letzte Dutzend zerstreut sich gegen Mitternacht und die Stadt wartet auf die Nationalgarde und die Stahlarbeiter, die sich für den kommenden Tag angekündigt haben.


1.12.1999, Kommentar

Brutalisierte Polizei


Seattles Polizei und Bürgermeister haben der amerikanischen und der Weltöffentlichkeit eine Lehre erteilt. Eine Lehre darüber, wie sich WTO und Demokratie miteinander Vertragen. Nämlich überhaupt nicht. Auf den entschlossenen aber gewaltfreien Protest Zehntausender reagiert eine überforderte, unvorbereitete und brutalisierte Polizei vollkommen überzogen. Und der Bürgermeister pfeift nicht etwa seinen Polizeichef zurück, sondern setzt sogar noch eins drauf, in dem er den Notstand ausruft und für tausende seiner Bürger eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Da will dann auch der Gouverneur Washingtons nicht zurückstehen und schickt 200 Mann der Nationalgarde genannten Bürgerkriegsarmee, in früheren Jahrzehnten immer wieder gerne gegen streikende Arbeiter und Arbeitslosenmärsche eingesetzt. Das alles wegen einer Demonstration, gegen die sich der Berliner 1. Mai wie die Weltrevolution ausnimmt.
Es paßt: Wenn die Mächtigen dieser Welt ihr neoliberales Weltgesetz ausarbeiten wollen, das Handel und Profit über alles stellt, dann muss den Opponenten rechtzeitig gezeigt werden, was eine Harke ist. Denn eins ist klar: Auch wenn WTO-Chef Mike Moore seine neoliberale Freihändler-Litanei noch so oft runterbetet, ändert es nichts daran, dass die Globalisierung mehr Verlierer als Gewinner kennt. Bauern in der dritten Welt und im Norden, denen die Konkurrenz der Agro-Industrie den Teppich unter den Füßen wegzieht, Verbraucher, die gezwungen werden, Gen-Mais und -Soja zu essen und Arbeiter, deren Löhne gedrückt und die in miesbezahlte Teilzeitjobs abgedrängt werden.
Doch nicht alles ist grau. Mit der Globalisierung internationalisiert sich auch der Widerstand. Das zeigt sich dieser Tage einmal mehr in Seattle.
Wolfgang Pomrehn

2.12.1999

Stahlbehelmte Nationalgardisten

Von Wolfgang Pomrehn
Im US-amerikanischen Seattle steht die Tagung der Welthandelsorganisation WTO ganz im Zeichen von Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten. Am Tag nach der Verhängung des Ausnahmezustands über die Innenstadt gingen Beamte, unterstützt von Einheiten der Nationalgarde, erneut gewaltsam gegen Demonstranten vor. Schon am Vormittag wurde in der Nähe des Konferenzzentrums eine größere Gruppe Protestierender, die sich auf den Boden gesetzt hatte, mit Tränengas beschossen und auseinander getrieben. Mehrere Dutzend Personen wurden festgenommen und zum Teil mit auf dem Rücken gefesselten Händen zu Bussen geschleift, die sie abtransportierten. Insgesamt wurden bis zum späten Mittwochabend (Ortszeit) 450 Personen festgenommen. Am Tag zuvor waren es 65 gewesen, denen nach Berichten örtlicher Fernsehsender für Stunden der Kontakt zu ihren Anwälten verweigert wurde.
Während stahlbehelmte Nationalgardisten in Kampfanzügen strategische Punkte bewachten, jagten Polizisten den ganzen Tag über Demonstranten durch Seattles Innenstadt. Wie am Vortag wurden auch Plastikgeschosse eingesetzt. Selbst Teilnehmer eines internationalen Frauenforums, das rund Tausend Menschen besuchten, waren betroffen. Die Organisatorinnen berichten, dass mehrere Frauen und ein Gewerkschafter auf dem Weg zum Versammlungsort von der Polizei angegriffen wurden. Nicht einmal das Vorzeigen von WTO-Akkreditierungen hielt die Beamten davon ab, mit Tränengas zu schießen und mit ihren langen Holzknüppeln auf die Frauen einzuschlagen und zu stechen. Auch CS-Gas wurde in Gesichter gesprüht.
Unbehelligt blieb hingegen eine Protestaktion von einigen hundert Stahlarbeitern, der sich Umweltschützer und andere WTO-Kritiker anschlossen. Die Gewerkschafter versenkten im Hafen einen Eisenträger. Eine Anspielung auf die Boston-Tea-Party, die einst zum Fanal für den Unabhängigkeitskampf wurde. Die Teilnehmer der Kundgebung waren begeistert von dem ungewöhnlichen Bündnis.
Am späteren Abend haben sich die Auseinandersetzungen auf den benachbarten Stadtteil Capitol Hill verlagert. Der Lokale Fernsehsender berichtet von mehreren Verletzten. Polizisten würden selbst Sanitäter angreifen. Fernsehbilder zeigen massiven Einsatz von Tränengas, der sich hauptsächlich gegen Anwohner zu richten scheint. Die, berichtet eine Reporterin, seien über das Vorgehen der Uniformierten empört. Go home-Sprechchöre schallen den Polizisten und Nationalgardisten entgegen.
Zeitungen in Seattle zeigen unterdessen von den Auseinandersetzungen am Vortag Bilder, auf denen Polizisten mit Gasgranaten auf unmittelbar vor ihnen am Boden Sitzende zielen. Nach Berichten der Organisatoren der Proteste am Dienstag wurde auch eine Radioreporterin Opfer der Polizeigewalt. Obwohl sie mit ihrem WTO-Namensschild als Journalistin kenntlich war, wurde sie mit CS-Gas besprüht und geschlagen, als sie eine Passantin interviewte.


6.12.1999

Erfolgreiche Proteste

Eine Überblick zum Abschluss

Es hatte ein kleines Extra-Geschäft werden sollen: 5000 Delegierte und Journalisten aus aller Welt in der Haupt-Shoppingzeit vor Weihnachten in der Stadt, das würde die Kassen bestimmt noch süßer klingeln lassen und dazu noch einen Image-Gewinn bringen: Seattle, die Handels- und Konferenzmetropole mit der blitzblank geputzten Innenstadt.
Es kam anders. Die dritte Ministertagung der Welthandelsorganisation WTO lockte nicht nur zahlungskräfige Regierungsbeamte und Wirtschaftslobbyisten in die Stadt sondern auch zehntausende Gegner rücksichtslosen Freihandels und ausufernder Konzernmacht. Radikale Umweltschützer aus den USA und Kanada, Gewerkschafter, Kleinbauern und politische Aktivisten aus aller Welt. Schon am Wochenende vor dem Start der offiziellen Konferenz am 30. trafen hunderte junger Menschen aus dem ganzen Land in den Anlaufpunkten des Direct Action Networks ein, eines Bündnis zahlreicher lokaler und regionaler Umweltgruppen, dass sich aus Anlass der WTO-Tagung gebildet hatte. In Workshops bereiteten sich Kleingruppen auf gewaltfreie Widerstandsformen vor. Künstlergruppen bastelten überdimensionale Stockpuppen sowie Schmetterlings- und Schildkrötenkostüme, die an die unüberschaubaren Folgen von Monsantos gentechnische manipulierten Mais und die Aushebelung US-amerikanischer Gesetze zum Schutz der Meeresschildkröten durch einen Schiedsspruch der WTO erinnern würden.
Der Protest sollte laut und bunt werden. Schon in den frühen Morgenstunden des 30. zogen Tausende auf die Straßen und Kreuzungen rund um das Kongresszentrum. Ziel: Die Delegierten mit Sitzblockaden und Menschenketten vom Tagungsort fernzuhalten. Zum Teil gelang es. Die Eröffnungszeremonie fiel aus, das erste Plenum am Nachmittag musste um eine Stunde verschoben werden.
Seattles Polizei zeigte sich im Umgang mit den friedlichen Protesten vollkommen unerfahren. In martialischer Ausrüstung aufgezogen, unternahm sie gar nicht erst den Versuch, die Sitzblockaden mit Verhandlungen und Wegtragen aufzulösen. Stattdessen wurden nach kurzer oder gar keiner Warnung Tränengasgranaten in die Menge geschossen und Schlagstöcke eingesetzt. Wiederholt waren Szenen zu beobachten, wie Beamte aus nächster Nähe chemische Keulen in Gesichter sprühten oder mit langen Holzknüppeln in Nieren und Unterleiber von am Boden Sitzenden stachen. Den ganzen Tag über lieferte sich die Einheiten des Seattle Police Department mit den 6000 bis 100000 Demonstranten ein Katz-und-Mausspiel in der Innenstadt. Schließlich kamen auch Plastikgeschosse zum Einsatz und die Polizeibrutalität hatte eine Atmosphäre erzeugt, in der einige Dutzend Jugendlicher ihre Wut an verhassten Symbolen ausließen. Scheiben von McDonalds-Imbissen und Star Bucks-Cafes gingen zu Bruch, ein Cafe wurde geplündert. Star Bucks ist eine Kette, die ähnlich wie McDonalds lokale Geschäfte verdrängt und mit billig Jobs arbeitet.
Weitgehend unbehelligt von den Auseinandersetzungen blieb ein Demonstrationszug von ca. 40000 der vom Gewerkschaftsverband AFL/CIO organisiert worden war. Ihm hatten sich auch etliche Tausend Studenten und Kleinbauern angeschlossen.
Während bei den Protesten auf der Straße, die während der Tagung trotz Ausgangssperre und dem Einsatz der Nationalgarde anhielten, das weiße Amerika dominierte, ging es auf zahlreichen Foren internationaler zu. Bereits am Wochenende vor der offiziellen Tagung hatten auf einem internationalen Symposium vor rund Tausend Zuhörern Gewerkschafter aus Afrika, Verbraucherschützer aus den USA und kritische Wissenschaftler aus Indien, Frankreich und Malaisia gesprochen. „Viele Entwicklungsländer“, so Martin Khor vom Third World Network in Malaysia, „haben nicht gewusst, was sie unterschreiben.“ Konsens-Entscheid in der WTO heiße, dass auf die kleinen Länder massiver Druck ausgeübt wird, damit sie akzeptieren, was EU und USA wollen. Vandana Shiva aus Indien geißelte die erzwungene Öffnung des indischen Saatgut Marktes, die die Sorten-Vielfalt gefährdet und die Kleinbauern in die Verschuldung treibt.
Indische Kleinbauern demonstrierten dann auch zu Tausenden am Tag der WTO-Eröffnung in Städten des Subkontinents gegen den Saatgut- und Gentech-Multi Monsanto. Der hat sich inzwischen weltweit Gegner gemacht. Der französische Bauernführer José Bové rief in Seattle vor etlichen Hunderten Teilnehmern eines internationalen Bauernforums zu einer Kampagne gegen Gentechnik-Konzerne auf.
Wolfgang Pomrehn