Im
Dezember 1999 fand im US-amerikansichen Seattle die dritte
Ministerkonferenz der WTO
statt. (Diese Konferenzen
werden im Dreijares-Rhythmus veranstaltet, die letzte war 2006 in
Hongkong.)
Aufgrund massiver und sehr breit
getragener Proteste gelangte die WTO
zum ersten Mal ins Bewußtsein einer
größeren internationalen
Öffentlickeit. Wie üblich hielten sich die Medien vor
allem an den
Bildern der "Straßenschlachten"
fest. In
Wirklichkeit handelte es sich allerdings um nichts weiter als
eine Aktion einer entfesselten, paranoid reagierenden Staatsmacht, die mit brachialer
Gewalt gegen zu 99 Prozent friedliche
Demonstranten vorging, bis sich edlich eine kleine Minderheit von
diesen zu wehren begann. Seattle gilt als einer
der Startpunkte der internationalen globalisierungskritischen
Bewegung,
wobei derlei Festlegungen natürlich immer recht subjektiv sind.
Nachfolgend
eine Sammlung von Artikeln, die ich über die Proteste
aus Seattle geschrieben habe. Andere Beiträge, die sich
schwerpunktmäßig
mit den Verhandlungen beschäftigen, finden sich hier.
Die LinX
veröffentlichte seinerzeit eine Sondernummer mit Artikeln von mir
aus Seattle.
Die meisten der hier wiedergegebenen Beiträge erschienen im Neuen Deutschland,
allerdings nicht unbedingt in der gleichen Form. Da das ND seinerzeit noch nicht online zu
lesen war, habe ich keinen Zugriff auf die readktionell bearbeiteten
Texte. Deswegen sind hier die von mir geschriebenen Manuskripte zu
finden. (Ich bitte Tippfehler zu entschuldigen.) Da ich das
Veröffentlichungsdatum nicht mehr nachvollziehen kann, ist bei den
ND-Beiträgen jeweils das
Datum (bezogen auf MEZ) angegeben, an dem die
Beiträge geschrieben wurden, .
28.11.1999
Dank der WTO
globalisiert sich der Protest
Von Wolfgang
Pomrehn
„Wer hatte bloß diese Idee mit der WTO?“ Die
Schlagzeile prangt dick über der Freitagausgabe der „Seattle
Times“. Irgendwie hatten sich Seattles Stadtrat,
Bürgermeister und Geschäftswelt die Sache etwas anders
vorgestellt, als sie Regierungsvertreter aus aller Welt in die
Hafenstadt im Nordwesten der USA einluden. Rund 5000 Diplomaten,
Minister und Lobbyisten tagen ab dem morgigen Dienstag in der
Handels-Metropole, doch sie werden nicht die einzigen Gäste in der
Boing- und Microsoft-Stadt sein.
In den vier Jahren ihres Bestehens hat sich die Welthandelsorganisation
WTO rund um den Globus zahllose Gegner gemacht und nicht wenige davon
haben sich zu Protesten gegen die Folgen der Globalisierung und die
weitere Liberalisierung des Welthandels angekündigt.
Menschenketten sind geplant, Blockaden und eine Demonstration zum
Auftakt der Ministerkonferenz, zu der Gewerkschaften,
Umweltschützer und Bauernverbände mindestens 50.000
Teilnehmer erwarten. Seit Monaten bereitet sich die hiesige Polizei,
die auf den Namen SPD (Seattle Police Department) hört, auf den
Großeinsatz vor. Polizeibeamte werden im Umgang mit Demonstranten
geschult, Container für Arresthäftlinge bereitgestellt. Die
Stadt, so fürchten die einen und hoffen die anderen, wird für
die vier Tage der Konferenz im Verkehrschaos versinken. Die
Einzelhändler der City, in deren Herzen die Hotels der Delegierten
und der Tagungsort liegen, wissen nicht recht, ob sie sich über
die zusätzliche potenzielle Kundschaft freuen sollen, oder ob
diese nicht eher die Bevölkerung verschreckt und das
Weihnachtsgeschäft verdirbt.
Einer ist bestimmt nicht zum Shoppen gekommen: Sanjay Mangala Gopal,
nationaler Koordinator der indischen Allianz der Volksbewegungen. Ende
Oktober startete er in New York 20 Gleichgesinnten aus Israel,
Großbritannien, Bolivien, Venezuela und anderen Ländern zu
einer Karawane quer durch die Vereinigten Staaten. In rund zwei Dutzend
Städten wurde Halt gemacht, um auf Veranstaltungen über den
Widerstand gegen die WTO aufzuklären und für die Aktionen in
Seattle zu mobilisieren. „Für uns geht es um unser
Überleben“, schildert er in Seattle die Situation der Bauern
und vieler Kleinbetriebe in seinem Heimatland. „Die Öffnung
des indischen Marktes seit Beginn der 90’er für billige
Importwaren zerstört die lokalen Märkte und die
Einkommensgrundlage von Millionen Menschen.“
Die WTO und der Freihandel, ist sich Sanjay mit vielen Tausenden einig,
die in diesen Tagen zu Konferenzen, Tagungen, Parties und Happenings in
der Stadt zusammenkommen, dient nur den Interessen der großen
Konzerne der reichen Staaten. Eine gute Seite kann er der
Globalisierung allerdings abgewinnen: „Dank der WTO globalisiert
sich auch der Widerstand. Vor 15 Jahren haben wir noch gedacht, es
reicht, wenn wir uns auf die lokale Ebene beschränken. Aber heute
wissen wir, dass wir uns international zusammenschließen
müssen.“ Seine Organisation, ein Zusammenschluss von mehr
als 150 Bauern-, Fischer- und Umweltschutzorganisationen, kämpft
in Indien nicht nur gegen die verheerenden Auswirkungen des
WTO-Regimes, sondern auch gegen Staudämme und das Kastensystem,
gegen Nukleartests und den wachsenden Kommunalismus, der die Religionen
gegeneinander ausspielt.
Wir treffen Sanjay im „Denny’s“, dem Anlaufpunkt des
Direct Action Network. Umweltschützer und Bürgerrechtler aus
dem ganzen Land haben für die WTO-Tagung ein Netzwerk gebildet, um
ihre Aktionen zu koordinieren. Es herrscht reges Kommen und Gehen.
Junge Aktivisten aus anderen Städten kommen an und müssen auf
Schlafplätze verteilt werden. Kleingruppen beraten ihre Aktionen,
mit denen die Konferenz behindert werden soll. In Workshops wird
gewaltfreies Verhalten in Konfliktsituationen geübt und in einem
Jail-training einstudiert, wie man bei einer Verhaftung den Beamten
möglichst lästig wird. „No walk, no talk“ lautet
die Devise, erklärt Tim, der uns durch die Räume führt;
„Nicht gehen, nicht reden.“ Konzepte der
Bürgerrechtsbewegung der 60er: Mit zivilen Ungehorsam gezielt
Gesetze brechen, um staatliche Allmacht in Frage zu stellen. Am
Dienstag, wenn die Delegierten aus den Hotels zum Tagungsort fahren, so
die Planung, sollen mit Happenings und Kleinaktionen die Straßen
versperrt werden. Manches erinnert an den Widerstand gegen
Atomtransporte in Gorleben: Einige Gruppen wollen sich an
Betonklötze anketten, andere Fesseln sich in langen Ketten
aneinander, um die Kreuzungen zu versperren. Alles soll gewaltfrei
bleiben, doch ob die Polizei das zu würdigen weiß, ist man
sich nicht sicher. Per Life-Übertragung und Video-Projektion an
eine Hochhausfassade sollen Übergriffe öffentlich gemacht
werden.
Eine Menschenkette anderer Art ist für Montagabend geplant: Die
Erlaß-Jahr-Kampagne Jubilee 2000, die Schuldenstreichung für
die ärmsten Länder fordert, will mit einer Menschenkette den
Eröffnungsempfang umzingeln. 10.000 Teilnehmer erwarten die
Veranstalter, die wie in Deutschland vor allem aus kirchlichen Kreisen
kommen.
„Demonstrationen solchen Ausmaßes“, schreibt die
„Seattle Times“, „hat die Stadt seit dem Einmarsch in
Kambodscha nicht mehr erlebt.“ Das „Wall Street
Journal“ erwartet gar die „Mutter aller Proteste“.
Den Aktivisten machen die Sorgen des Establishments Hoffnungen, um so
mehr, als letzte Woche in Genf die Vorverhandlungen gescheitert sind.
Die Minister werden sich am Dienstag auf ihren Tischen weder eine
Tagesordnung noch den Entwurf eines Resolutionstextes vorfinden. Die
Organisatoren der Proteste wie auch das International Forum on
Globalisation, das am Wochenende eine von 2000 Teilnehmern besuchte
Konferenz abhielt, sind daher guter Dinge, dass öffentlicher Druck
und interne Widersprüche die Verhandlungen zum Platzen bringen
könnten.
1.12.1999
"Das ist wie
damals"
Von Wolfgang
Pomrehn
Seattle am Eröffnungstag der WTO-Konferenz: Tränengasschwaden
ziehen durch die Straßen, Polizisten - mit Helm, Gasmaske und
Plastikpanzerung wie kleine Ein-Mann-Festungen anmutend - treiben
Demonstranten vor sich her, hier und da brennende Müllcontainer,
umgeworfene Zeitungsboxen und zerbrochene Schaufensterscheiben. Am
Abend ruft der Bürgermeister den Notstand aus. Die ganze
Innenstadt der Handelsmetropole an der kanadischen Grenze wird zum
Sperrgebiet erklärt. Ab 19 Uhr dürfen Tausende von Anwohner
und Hotelgäste die Häuser nicht mehr verlassen. Selbst die
Nationalgarde wird in die Stadt gerufen.
Dabei hatte alles ganz friedlich angefangen. Schon am frühen
Morgen zogen Tausende auf die Straßen und vor allem die
Kreuzungen rund um das Seattle Convention Center, wo die
Welthandelsorganisation tagt. Junge Aktivisten fesselten sich,
Hände und Unterarme in Röhren mit Handschellen zusammen, um
so die Kreuzungen zu blockieren. Ziel: Den Delegierten soll der Weg zum
Tagungsort versperrt werden.
Überdimensionale Fingerpuppen werden durch die Straßen
getragen, „Mutter Erde“ z.B. oder ein Gerippe, das die Gier
der großen Konzerne darstellt. Große Schmetterlinge sind zu
sehen, die an die Monarchfalter erinnern, die dem genmanipulierten Mais
des US-Agroriesen Monsantu zum Opfer gefallen sind. Auch einige Dutzend
als Meeresschildkröten verkleidete Demonstranten, die an den
Spruch des WTO-Schiedsgericht gegen die Schildkrötenschutzgesetze
der USA erinnern. Auf leeren Eimern und Kanistern werden heiße
Rhythmen getrommelt. Einige tanzen.
Es sind vor allem jungen Menschen aus Umweltschutz- und
Bürgerrechtsgruppen, die sich schon am frühen Morgen
aufgemacht haben. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen, einige
sprechen von 6000, andere gar von 10000. Auch ältere mischen sich
unter die Demonstranten. John z.B., Handwerker, Vietnamveteran und
Mitglied der amerikanischen Grünen. „Für mich ist
corporate fascism (Konzern-Faschismus) das gleiche wie politischer
Faschismus“, drückt er die Ängste vieler Demonstranten
aus. Ein Transparent sagt es in anderen Worten „No Globalisation
without Representation“, keine Globalisierung ohne demokratische
Vertretungen. Eine Anspielung auf den Unabhängigkeitskrieg gegen
England. Die Befürchtung, dass eine unkontrollierbare
Weltorganisation nationale Parlamente entmachten könnte, ist an
diesem Tag von vielen Demonstranten zu hören.
John ist trotzdem begeistert: „Das ist wie damals, während
des Vietnamkriegs. Erst waren es auch nur die Hippies, die dagegen
demonstriert haben. Später haben auch die hard heads, die Arbeiter
mitgemacht. Heute ist genauso.“ Stimmt, gerade zieht ein
Transparent der Stahlarbeiter an uns vorbei. „Wir
unterstützen die Waldarbeiter“, ist zu lesen. „Der
Kahlschlag der alten Wälder“, erklärt ein knorriger
Vollbart, „zerstört nicht nur die Umwelt, sonder auch ihre
Jobs.“
Die Polizei ist nur in geringer Manschaftsstärke aufgefahren,
dafür aber in martialischer Ausrüstung, die nichts gutes
erwarten läßt. Und richtig. Schon bald versucht man hier und
da, den Weg frei zu machen. Die Beamten probieren gar nicht erst, die
zum Teil auf den Boden sitzenden wegzutragen, oder die Menge mit
sanftem Druck abzudrängen. Nach kurzer Räumungsaufforderung
wird Tränengas in die friedlich Menge geschossen. Aus
nächster Nähe wird Menschen CS-Gas ins Gesicht gespritzt. Mit
langen Holzknüppeln stechen Polizisten gezielt in Nieren und
Unterleib der am Boden sitzenden.
Doch noch bleibt die Situation im Großen und Ganzen ruhig, bei
einigen wenigen Geschäften gehen die Scheiben zu Bruch. Ziel der
Wut einiger Dutzend Maskierter: McDonalds-Imbisse und Starbucks
Café, eine Kette, die kleine Familienbetriebe verdrängt.
Gegen 13 Uhr treffen die Demonstrationszüge des
Gewerkschaftsverband AFL/CIO, der Studenten und der Farmer in der
Innenstadt ein. Von 35000 bis 50000 reichen die Schätzungen. Jetzt
wird es auch internationaler: Französische Kleinbauern sind dabei,
Filipinos, Umwelt- und Verbraucherschützer aus Südkorea,
indische Kirchenvertreter, lateinamerikanische Aktivisten. Seattles
Hafenarbeiter, die berühmten Longshoremen streiken an diesem Tag
genauso, wie die Arbeiter bei Boing, um an der Kundgebung teilzunehmen.
Die Stimmung ist kämpferisch. Hier und da fordert ein Plakat
Freiheit für Mumia Abu Jamal, des afro-amerikanischen
Bürgerrechtlers, der seit Jahren in der Todeszelle sitzt. Andere
fordern das Ende der Blockade Kubas. Ein Transparent verkündet:
„Wir sind Bürger, nicht Konsumenten.“
Als die Gewerkschaftsdemonstration wieder abgezogen ist, eskaliert die
Situation langsam. Die Delegierten sind längst am Tagungsort, als
die Polizei beginnt, die Straßen rund um das
Kongresszentrum freizumachen. Jetzt kommen auch Gummigeschosse zum
Einsatz gegen die immer noch überwiegend friedliche Menge.
Mitunter werden Tränengasgranaten direkt auf Personen abgeschossen.
Die Gewalt der Polizei animiert einige extrem junge Demonstranten
offensichtlich zur Nachahmung. Mehr Schaufenster gehe zu Bruch. Ein
Starbuck Café wird geplündert. Aus Zeitungen, Müll und
Straßenabsperrungen werden ein paar Feuer angezündet.
Gegen abend hat die Polizei es endlich geschafft: Hier und da gibt es
ein paar kleine Scharmützel mit Demonstranten. Doch die vielen
Zehntausend sind längst Zuhause und auch das letzte Dutzend
zerstreut sich gegen Mitternacht und die Stadt wartet auf die
Nationalgarde und die Stahlarbeiter, die sich für den kommenden
Tag angekündigt haben.
1.12.1999, Kommentar
Brutalisierte
Polizei
Seattles Polizei und Bürgermeister haben der amerikanischen und
der Weltöffentlichkeit eine Lehre erteilt. Eine Lehre
darüber, wie sich WTO und Demokratie miteinander Vertragen.
Nämlich überhaupt nicht. Auf den entschlossenen aber
gewaltfreien Protest Zehntausender reagiert eine überforderte,
unvorbereitete und brutalisierte Polizei vollkommen überzogen. Und
der Bürgermeister pfeift nicht etwa seinen Polizeichef
zurück, sondern setzt sogar noch eins drauf, in dem er den
Notstand ausruft und für tausende seiner Bürger eine
nächtliche Ausgangssperre verhängt. Da will dann auch der
Gouverneur Washingtons nicht zurückstehen und schickt 200 Mann der
Nationalgarde genannten Bürgerkriegsarmee, in früheren
Jahrzehnten immer wieder gerne gegen streikende Arbeiter und
Arbeitslosenmärsche eingesetzt. Das alles wegen einer
Demonstration, gegen die sich der Berliner 1. Mai wie die
Weltrevolution ausnimmt.
Es paßt: Wenn die Mächtigen dieser Welt ihr neoliberales
Weltgesetz ausarbeiten wollen, das Handel und Profit über alles
stellt, dann muss den Opponenten rechtzeitig gezeigt werden, was eine
Harke ist. Denn eins ist klar: Auch wenn WTO-Chef Mike Moore seine
neoliberale Freihändler-Litanei noch so oft runterbetet,
ändert es nichts daran, dass die Globalisierung mehr Verlierer als
Gewinner kennt. Bauern in der dritten Welt und im Norden, denen die
Konkurrenz der Agro-Industrie den Teppich unter den Füßen
wegzieht, Verbraucher, die gezwungen werden, Gen-Mais und -Soja zu
essen und Arbeiter, deren Löhne gedrückt und die in
miesbezahlte Teilzeitjobs abgedrängt werden.
Doch nicht alles ist grau. Mit der Globalisierung internationalisiert
sich auch der Widerstand. Das zeigt sich dieser Tage einmal mehr in
Seattle.
Wolfgang Pomrehn
2.12.1999
Stahlbehelmte
Nationalgardisten
Von Wolfgang
Pomrehn
Im US-amerikanischen Seattle steht die Tagung der
Welthandelsorganisation WTO ganz im Zeichen von Auseinandersetzungen
zwischen der Polizei und Demonstranten. Am Tag nach der Verhängung
des Ausnahmezustands über die Innenstadt gingen Beamte,
unterstützt von Einheiten der Nationalgarde, erneut gewaltsam
gegen Demonstranten vor. Schon am Vormittag wurde in der Nähe des
Konferenzzentrums eine größere Gruppe Protestierender, die
sich auf den Boden gesetzt hatte, mit Tränengas beschossen und
auseinander getrieben. Mehrere Dutzend Personen wurden festgenommen und
zum Teil mit auf dem Rücken gefesselten Händen zu Bussen
geschleift, die sie abtransportierten. Insgesamt wurden bis zum
späten Mittwochabend (Ortszeit) 450 Personen festgenommen. Am Tag
zuvor waren es 65 gewesen, denen nach Berichten örtlicher
Fernsehsender für Stunden der Kontakt zu ihren Anwälten
verweigert wurde.
Während stahlbehelmte Nationalgardisten in Kampfanzügen
strategische Punkte bewachten, jagten Polizisten den ganzen Tag
über Demonstranten durch Seattles Innenstadt. Wie am Vortag wurden
auch Plastikgeschosse eingesetzt. Selbst Teilnehmer eines
internationalen Frauenforums, das rund Tausend Menschen besuchten,
waren betroffen. Die Organisatorinnen berichten, dass mehrere Frauen
und ein Gewerkschafter auf dem Weg zum Versammlungsort von der Polizei
angegriffen wurden. Nicht einmal das Vorzeigen von WTO-Akkreditierungen
hielt die Beamten davon ab, mit Tränengas zu schießen und
mit ihren langen Holzknüppeln auf die Frauen einzuschlagen und zu
stechen. Auch CS-Gas wurde in Gesichter gesprüht.
Unbehelligt blieb hingegen eine Protestaktion von einigen hundert
Stahlarbeitern, der sich Umweltschützer und andere WTO-Kritiker
anschlossen. Die Gewerkschafter versenkten im Hafen einen
Eisenträger. Eine Anspielung auf die Boston-Tea-Party, die einst
zum Fanal für den Unabhängigkeitskampf wurde. Die Teilnehmer
der Kundgebung waren begeistert von dem ungewöhnlichen
Bündnis.
Am späteren Abend haben sich die Auseinandersetzungen auf den
benachbarten Stadtteil Capitol Hill verlagert. Der Lokale Fernsehsender
berichtet von mehreren Verletzten. Polizisten würden selbst
Sanitäter angreifen. Fernsehbilder zeigen massiven Einsatz von
Tränengas, der sich hauptsächlich gegen Anwohner zu richten
scheint. Die, berichtet eine Reporterin, seien über das Vorgehen
der Uniformierten empört. Go home-Sprechchöre schallen den
Polizisten und Nationalgardisten entgegen.
Zeitungen in Seattle zeigen unterdessen von den Auseinandersetzungen am
Vortag Bilder, auf denen Polizisten mit Gasgranaten auf unmittelbar vor
ihnen am Boden Sitzende zielen. Nach Berichten der Organisatoren der
Proteste am Dienstag wurde auch eine Radioreporterin Opfer der
Polizeigewalt. Obwohl sie mit ihrem WTO-Namensschild als Journalistin
kenntlich war, wurde sie mit CS-Gas besprüht und geschlagen, als
sie eine Passantin interviewte.
6.12.1999
Erfolgreiche
Proteste
Eine
Überblick zum Abschluss
Es hatte ein
kleines Extra-Geschäft werden sollen: 5000 Delegierte und
Journalisten aus aller Welt in der Haupt-Shoppingzeit vor Weihnachten
in der Stadt, das würde die Kassen bestimmt noch süßer
klingeln lassen und dazu noch einen Image-Gewinn bringen: Seattle, die
Handels- und Konferenzmetropole mit der blitzblank geputzten Innenstadt.
Es kam anders. Die dritte Ministertagung der Welthandelsorganisation
WTO lockte nicht nur zahlungskräfige Regierungsbeamte und
Wirtschaftslobbyisten in die Stadt sondern auch zehntausende Gegner
rücksichtslosen Freihandels und ausufernder Konzernmacht. Radikale
Umweltschützer aus den USA und Kanada, Gewerkschafter, Kleinbauern
und politische Aktivisten aus aller Welt. Schon am Wochenende vor dem
Start der offiziellen Konferenz am 30. trafen hunderte junger Menschen
aus dem ganzen Land in den Anlaufpunkten des Direct Action Networks
ein, eines Bündnis zahlreicher lokaler und regionaler
Umweltgruppen, dass sich aus Anlass der WTO-Tagung gebildet hatte. In
Workshops bereiteten sich Kleingruppen auf gewaltfreie
Widerstandsformen vor. Künstlergruppen bastelten
überdimensionale Stockpuppen sowie Schmetterlings- und
Schildkrötenkostüme, die an die unüberschaubaren Folgen
von Monsantos gentechnische manipulierten Mais und die Aushebelung
US-amerikanischer Gesetze zum Schutz der Meeresschildkröten durch
einen Schiedsspruch der WTO erinnern würden.
Der Protest sollte laut und bunt werden. Schon in den frühen
Morgenstunden des 30. zogen Tausende auf die Straßen und
Kreuzungen rund um das Kongresszentrum. Ziel: Die Delegierten mit
Sitzblockaden und Menschenketten vom Tagungsort fernzuhalten. Zum Teil
gelang es. Die Eröffnungszeremonie fiel aus, das erste Plenum am
Nachmittag musste um eine Stunde verschoben werden.
Seattles Polizei zeigte sich im Umgang mit den friedlichen Protesten
vollkommen unerfahren. In martialischer Ausrüstung aufgezogen,
unternahm sie gar nicht erst den Versuch, die Sitzblockaden mit
Verhandlungen und Wegtragen aufzulösen. Stattdessen wurden nach
kurzer oder gar keiner Warnung Tränengasgranaten in die Menge
geschossen und Schlagstöcke eingesetzt. Wiederholt waren Szenen zu
beobachten, wie Beamte aus nächster Nähe chemische Keulen in
Gesichter sprühten oder mit langen Holzknüppeln in Nieren und
Unterleiber von am Boden Sitzenden stachen. Den ganzen Tag über
lieferte sich die Einheiten des Seattle Police Department mit den 6000
bis 100000 Demonstranten ein Katz-und-Mausspiel in der Innenstadt.
Schließlich kamen auch Plastikgeschosse zum Einsatz und die
Polizeibrutalität hatte eine Atmosphäre erzeugt, in der
einige Dutzend Jugendlicher ihre Wut an verhassten Symbolen
ausließen. Scheiben von McDonalds-Imbissen und Star Bucks-Cafes
gingen zu Bruch, ein Cafe wurde geplündert. Star Bucks ist eine
Kette, die ähnlich wie McDonalds lokale Geschäfte
verdrängt und mit billig Jobs arbeitet.
Weitgehend unbehelligt von den Auseinandersetzungen blieb ein
Demonstrationszug von ca. 40000 der vom Gewerkschaftsverband AFL/CIO
organisiert worden war. Ihm hatten sich auch etliche Tausend Studenten
und Kleinbauern angeschlossen.
Während bei den Protesten auf der Straße, die während
der Tagung trotz Ausgangssperre und dem Einsatz der Nationalgarde
anhielten, das weiße Amerika dominierte, ging es auf zahlreichen
Foren internationaler zu. Bereits am Wochenende vor der offiziellen
Tagung hatten auf einem internationalen Symposium vor rund Tausend
Zuhörern Gewerkschafter aus Afrika, Verbraucherschützer aus
den USA und kritische Wissenschaftler aus Indien, Frankreich und
Malaisia gesprochen. „Viele Entwicklungsländer“, so
Martin Khor vom Third World Network in Malaysia, „haben nicht
gewusst, was sie unterschreiben.“ Konsens-Entscheid in der WTO
heiße, dass auf die kleinen Länder massiver Druck
ausgeübt wird, damit sie akzeptieren, was EU und USA wollen.
Vandana Shiva aus Indien geißelte die erzwungene Öffnung des
indischen Saatgut Marktes, die die Sorten-Vielfalt gefährdet und
die Kleinbauern in die Verschuldung treibt.
Indische Kleinbauern demonstrierten dann auch zu Tausenden am Tag der
WTO-Eröffnung in Städten des Subkontinents gegen den Saatgut-
und Gentech-Multi Monsanto. Der hat sich inzwischen weltweit Gegner
gemacht. Der französische Bauernführer José
Bové rief in Seattle vor etlichen Hunderten Teilnehmern eines
internationalen Bauernforums zu einer Kampagne gegen
Gentechnik-Konzerne auf.
Wolfgang Pomrehn