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Im Dezember 1999 fand im US-amerikansichen  Seattle die dritte Ministerkonferenz der WTO (diese Konferenzen werden im Dreijahres-Rhythmus veranstaltet) statt. Angesichts massiver und sehr breit getragenen Proteste gelangte die WTO zum ersten Mal ins Bewusstsein  einer größeren internationalen Öffentlickeit. Wie üblich hileten sich die Medien vor allem an den Bildern der "Straßenschlachten" fest, die in Wirklichkeit nichts weiter als Ationen einer entfesselten, paranoid reagierenden Staatsmacht darstellten, die mit brachialer Gewalt gegen zu 99 Prozent friedliche Demonstranten vorging, bis sich endlich eine kleine Minderheit von diesen zu wehren begann. Seattle gilt als einer der  Startpunkte der internationalen globalisierungskritischen Bewegung, wobei derlei Festlegungen natürlich immer recht subjektiv sind.
Nachfolgend eine Sammlung von Artikeln, die ich über die Verhandlungen aus  Seattle geschrieben habe. Die Beiträge, die sich schwerpunktmäßig mit den Protesten beschäftigen, finden sich hier.
Die LinX veröffentlichte seinerzeit eine Sondernummer mit Artikeln von mir aus Seattle.

Die meisten der hier wiedergegebenen Beiträge erschienen seinerzeit im Neuen Deutschland, allerdings nicht unbedingt in der gleichen Form. Angegeben ist bei den ND-Beiträgen jeweils das Datum (bezogen auf MEZ), an dem die Beiträge geschrieben worden, da ich das Veröffentlichungsdatum nicht  mehr nachvollziehen kann. 


28.11.1999

Bitte keine kritischen Fragen

Von Wolfgang Pomrehn
In Seattle, USA, beginnt heute die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO. Minister aus 134 Mitgliedsländern  und zahlreiche Beobachter und Beitrittskandidaten versammeln sich, um über Tagesordnung und Arbeitsplan einer neuen Verhandlungsrunde, der sogenannten Millennium-Runde zu beraten. Doch schon über die Zielsetzung dieses von Optimisten auf drei Jahre angesetzten Verhandlungsmarathons gehen die Meinungen weit auseinander. Während die einen, vor allem die EU die Liberalisierung der weltweiten Waren- und Kapitalströme weiter vorantreiben wollen, möchten andere, die meisten Entwicklungsländer, das Tempo drosseln und ersteinmal eine gründliche Bestandsaufnahme machen und die Fehler des bestehenden Systems beseitigen. Irgendwo dazwischen bewegt sich eine Gruppe, angeführt von den USA, denen der Spatz in der Hand lieber ist, als die Taube auf dem Dach. Sie möchten, bevor Neues auf die Tagesordnung gesetzt wird, zunächst einmal die in den bestehenden Verträgen vorgesehene weitere Öffnung der Agrarmärkte am Verhandlungstisch absichern.
In den Vorverhandlungen, die seit Monaten in Genf am Sitz der WTO geführt wurden, haben sich die Fronten derart verhärtet, dass letzte Woche nicht einmal eine Einigung über die Tagesordnung des Ministertreffens möglich war. Bei den Regierungen der Industriestaaten geht daher inzwischen die Angst um, der Auftakt der Millennium-Runde könnte zu einem Fiasko geraten. US-Präsident Bill Clinton hat daher in den letzten Wochen versucht, dem Treffen in Seattle größeres Gewicht zu verleihen, in den er Regierungschefs aus einigen Dutzend der wichtigsten Staaten zu einem parallelen Gipfel einlud, doch seine Emissionäre brachten vor allem Körbe mit nachhause. Offenbar wollte man sich von Berlin bis Tokio die Blamage lieber ersparen.
Wie nervös man bei der WTO angesichts des drohenden Scheiterns ist, verdeutlicht ein Gerücht, dass unter den Gegnern des Freihandels in Seattle die Runde macht: WTO-Präsident Michael Moore, ein ehemaliger Gewerkschaftsführer aus Neuseeland, habe letzte Woche die Direktorin der Weltgesundheitsorganisation Gro Harlem Brundtland angerufen. Er habe schon genug Probleme, soll er ihr nahe gelegt haben. Sie möchte doch bitte darauf verzichten, ihrerseits kritische Fragen zu stellen. Fragen könnte Brundtland z.B. wie denn mit der weltweiten Privatisierung des Gesundheitssystems, die auf der Wunschliste der Freihändler steht, oder mit liberalisierten Markten für Medikamente, in denen kleinere nationale Hersteller in den Entwicklungsländern unweigerlich unterliegen werden, denn noch die Versorgung der ärmeren Teile der Bevölkerung gesichert werden kann. Dem Vernehmen nach soll die Norwegerin Moores Wünschen nachgegeben haben.
Weniger Nachgiebigkeit ist von den Entwicklungsländern zu erwarten. Wenn die EU im Auftrag ihrer industriellen Verbände, nicht zuletzt des deutschen BDI in diesen Tagen in Seattle einmal mehr Narrenfreiheit für ausländische Investoren fordert, wird sie bei vielen Ländern des Südens, allen voran Indien, auf Granit beißen. Auch das Ansinnen der europäischen Konzerne, verbindlich in den WTO-Verträgen festzuschreiben, dass staatliche Aufträge ab einer bestimmten Höhe international ausgeschrieben werden müssen, findet in Delhi und vielen anderen Hauptstädten Asiens und Afrikas wenig Freunde. Lokale Behörden von Mecklenburg bis Tamil Nadu hätten dann keine Möglichkeit mehr, örtliches Gewerbe bei der Auftragsvergabe zu bevorzugen, um vorort Einkommen und Arbeitsplätze zu schaffen. Der Markt der lockt ist riesig: Ca. 30% des Bruttosozialprodukts macht er in den Entwicklungsländern aus, ein großes Stück vom Kuchen, an das ausländische Konzerne bisher selten rankommen.
Indien stellt sich u.a. mit den afrikanischen Ländern auf den Standpunkt, dass, bevor irgendwelche neuen Themen, wie die von der EU gepuschten, auf den Verhandlungstisch kommen, erst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht und Nachteile für die armen Länder ausgebügelt werden müssen. Die Beklagen sich nämlich nicht nur über die Flut billiger Produkte, die ihre Märkte überschwemmt und heimische Produzenten an die Wand drückt, sondern auch über zahlreiche Exporthemmnisse für ihre Waren, die die reichen Länder wenn überhaupt nur zögerlich abbauen. So haben z.B. in den vier Jahren des Bestehens der WTO entgegen den Versprechen die Importe von Textilien in den Norden nicht zugenommen.
Insbesondere verlangen die afrikanischen Staaten, dass der Vertrag über den Patentschutz neu verhandelt wird. In der bisherigen Verfassung erlaubt er nämlich die Patentierung von Lebensformen, was in zunehmenden Umfang dazu führt, dass Agro-Konzerne aus dem Norden Patente auf Nutzpflanzen anmelden, die in Asien und Afrika seit Jahrtausenden kultiviert werden. Das Ergebnis: Die Patentinhaber können Bauern in Indien oder Kenia Rechte auf Anbau und Handel streitig machen.
Wie die EU keinen Anspruch hat, dass ihre Themen verhandelt werden, haben auch die Entwicklungsländer im bestehenden Vertragswerk wenig Handhabe, auf Revision zu bestehen. Bleiben also nur die Verhandlungen über die Liberalisierung der Agrarmärkte und des Handels mit Dienstleistungen, der vor allem für Banken und Versicherungen interessant ist. Hier sehen die Verträge vor, dass Gespräche im Jahr 2000 beginnen sollen. Die EU hat allerdings schon durchblicken lassen, dass es von ihr bei der Landwirtschaft nur Zugeständnisse gibt, wenn „über alles“, d.h. auch über ihre Wunschliste, gesprochen wird. Aus ihrer Sicht, so EU-Handelskommissar Pascal Lamy am Sonntagabend vor der Presse in Seattle, solle die Frage der Agrarmärkte allerdings nicht zum Stolperstein werden. Der könnte nach Auffassung Lamys eher bei den Sozialstandards liegen. Die EU will zusammen mit den USA bestimmte Mindeststandards an Arbeiterrechten in die WTO/Verträge aufgenommen wissen.


junge Welt
, 29.11.1999 / Ausland

Piratengipfel in Seattle

Nach dem WTO-treffen wird neue Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels erwartet. Von Wolfgang Pomrehn

Weltweite Proteste

Am 30. November beginnt im US-amerikanischen Seattle das dritte Ministertreffen der Welthandelsorganisation WTO. Die Vertreter von 135 Mitgliedsstaaten werden erwartet, eine ganze Reihe weiterer Regierungen werden Beobachter schicken. Wie kaum eine andere internationale Konferenz zuvor, zieht das WTO-Treffen seit Monaten rund um den Globus die Aufmerksamkeit von Gewerkschaften und Aktionsgruppen, Umweltorganisationen und entwicklungspolitischen Initiativen auf sich. Zahlreiche Proteste sind angekündigt.

Seit Anfang November bewegt sich eine Karawane der Gegner durch Kanada Richtung Seattle. Mit gutem Grund: Vor allem die Regierungen der Industriestaaten, aber auch der meisten Schwellenländer erwarten von Seattle den Startschuß für eine Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels, die sogenannte Millenniumsrunde. Drei Jahre soll sie dauern, besagen die bisherigen Planungen. Erfahrungen mit ihrem Vorläufer, der Uruguay-Runde, aus der 1995 die WTO hervorging, lassen allerdings eher erwarten, daß sich die Verhandlungen über einen wesentlich längeren Zeitraum erstrecken werden.

In Seattle im Bundesstaat Washington wird es vor allem um Tagesordnung und Zeitplan dieser Verhandlungen gehen. Als Thema zur Diskussion steht zunächst die sogenannte »built-in agenda« fest, d. h. Gespräche über die Liberalisierung des Agrar- und Dienstleistungssektors. Die waren bereits bei der Unterzeichnung des WTO-Vertrages 1994 im Marrakesch vereinbart worden. Des weiteren wird es um WTO-interne Fragen wie Transparenz der Entscheidungsprozesse und Einbeziehung der Mitgliedsstaaten gehen. Außerdem werden Fragen, die man bereits seit der ersten WTO-Tagung in Singapur verhandelt, weiter besprochen werden wie z. B. die internationale Ausschreibung öffentlicher Aufträge, Erleichterungen für ausländische Investoren sowie Handelserleichterungen. Schließlich wollen die EU und die USA auch die Frage von Sozial- und Umweltklauseln auf die Tagesordnung setzen. Damit beißen sie allerdings bei vielen anderen Ländern auf Granit. Auf einem Seattle-Vorbereitungstreffen in Genf Anfang des Monats standen sie mit entsprechenden Forderungen allein da.

Während westeuropäische und US-amerikanische Gewerkschaften von ihren Regierungen die Einführung der Sozialklauseln verlangen und die EU hiesige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Umweltklauseln zu ködern versucht, lehnen Bürgerkomitees, Frauengruppen, NGOs aller Art, kritische Wissenschaftler und viele Gewerkschaften in den meisten Mitgliedsländern die Verhandlungen ab. In einer von etlichen hundert Gruppen aus aller Welt unterzeichneten Erklärung wird ein sofortiger Stopp der weiteren Liberalisierung des Welthandels gefordert. Ein Verhandlungsmoratorium müsse her, um die bisherigen Folgen der WTO-Politik zu untersuchen: »Die Ergebnisse der Uruguay-Runde und die Etablierung der WTO wurden zu Mitteln erklärt, die der Schaffung und Erweiterung globalen Reichtums und allgemeiner Prosperität dienen, die zur Förderung des Lebensstandards aller Menschen in allen Mitgliedsländern führen werden. In Wirklichkeit hat jedoch die WTO in den fünf Jahren ihrer Existenz zur Konzentration des Reichtums in den Händen weniger beigetragen, hat für die Mehrheit der Weltbevölkerung wachsende Armut gebracht und die Verbreitung nicht- nachhaltiger Produktions- und Verbrauchsmuster gefördert.«

Zwang zur Marktöffnung

Tatsächlich gibt ein historischer Rückblick den Kritikern recht. Während die Befürworter des Freihandels diesen als Motor weltweiter wirtschaftlicher Entwicklung feiern sprechen die Fakten eine andere Sprache. Alle Staaten, denen es in den vergangenen 200 Jahren gelang, sich zu industrialisieren, haben zunächst ihren Binnenmarkt gegen die ausländische Konkurrenz geschützt. An erster Stelle stand zunächst das Abkupfern importierter Waren, d. h. die Verletzung des Patentrechts. Erst nachdem der Produktivitätsrückstand aufgeholt war und der heimische Markt für den Absatz der erzeugten Produkte nicht mehr reichte, wurden die Grenzen schrittweise geöffnet. Das passierte Ende letzten Jahrhunderts in Deutschland, einige Jahrzehnte später in Japan und in jüngster Zeit in Taiwan und Südkorea, denen diese Möglichkeit aufgrund ihrer besonderen Bedeutung im Kalten Krieg eingeräumt wurde. Andere Länder, die weniger glücklich waren, wurden zu einer frühzeitigen Öffnung ihrer Märkte für billige Industrieprodukte aus dem industrialisierten Norden gezwungen. Dort konnte sich nie eine nennenswerte unabhängige Industrie entwickeln.

Hunger und Armut

Jüngstes Beispiel sind hierfür die Philippinen, die seit Beginn der 60er Jahre eine Politik der offenen Grenzen betreiben. Während Südkorea im gleichen Zeitraum mit einer protektionistischen staatlichen Industrialisierungspolitik den Sprung vom Agrarland und einem der ärmsten Staaten der Welt in den Kreis der führenden Industrienationen schaffte, sind die Philippinen nach wie vor ein abhängiger Staat ohne eigenständige industrielle Basis. Der Einzelhandel befindet sich fest in der Hand US-amerikanischer Ketten, und in den zahlreichen Sonderwirtschaftszonen tummeln sich ausländische Unternehmen, die ihre steuerlich längst abgeschriebenen Maschinen noch ein paar Jahre mit billigster Arbeitskraft weiterlaufen lassen wollen. (AP-Foto: Landarbeiter verbrennen in Manila ein symbolisches Eigentümer-Zertifikat, das den Kauf der Philippinen durch die USA beurkundet)

Der Inselstaat verbuchte zwar in den letzten Jahren einen enormen Anstieg seiner industriellen Exporte, mußte allerdings fast im gleichen Umfang importieren, da die neugeschaffene Industrie zumeist aus Montagebetrieben besteht, in denen die Produkte nur wenig Wertzuwachs erhalten. Trotz eines erheblich infrastrukturellen Aufwands (Bau von Autobahnen und Hafenterminals, zu deren Zweck in Manila Hunderttausende Slumbewohner vertrieben wurden) bleibt somit nur wenig Kapital und Kaufkraft im Land zurück. Die Philippinen sind damit auch ein Musterbeispiel für den Welthandel nach dem Geschmack der Konzerne in den OECD-Staaten. Einzelkomponenten werden dort produziert, wo es gerade am billigsten ist, und dann zur Montage um den halben Globus transportiert.

Dementsprechend nahm im vergangene Jahrzehnt das Volumen des Welthandels rund doppelt so schnell zu wie das weltweite Bruttosozialprodukt. Selbst im Krisenjahr 1998 war das noch der Fall.

Angesichts dieser Sachlage sollte man meinen, daß sich in Seattle geschlossene Fronten von Industrie- und Entwicklungsländern gegenüberstehen werden. Doch die Lage ist komplizierter. Viele Schwellenländer erhoffen sich vom Fall der Zollschranken Absatzchancen für ihre konkurrenzfähigen Waren für den Massenmarkt. Dabei geht es nicht zuletzt um Textilien, aber auch um Erzeugnisse der Informationstechnologie, wie Computerchips, PCs und ähnliches. Ein Teil der Entwicklungsländer könnte profitieren, wenn die Industriestaaten ihre Zollbarrieren für Agrarimporte abbauen würden. Zumindest ist das die Ansicht mancher Regierung, denn natürlich fehlt die für Exportprodukte genutzte Anbaufläche, wenn es um die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln geht. Und auch von den Exporterlösen kommt für gewöhnlich wenig bei der ländlichen Bevölkerung an. Die muß eher damit rechnen, aufgrund der Mechanisierung, die unumgänglich ist, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können, ihre Einkommensquellen zu verlieren.

Was die Liberalisierung der Agrarmärkte für die Versorgung der Bevölkerung bedeuten kann, hat sich unlängst am Beispiel Indonesiens gezeigt. Das 200- Millionen-Einwohner-Land war in den 80er Jahren Selbstversorger. Mit dem Übergang zur exportorientierten Entwicklung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt und die Grenze für Reisimporte geöffnet. Im Ergebnis nahm die Selbstversorgungsrate rapide ab, da die Kleinbauern der Inselrepublik nicht mit den Weltmarktgrößen mithalten konnten. Als nach Ausbruch der asiatischen Krise die indonesische Rupiah auf ein Zehntel ihres vorherigen Wertes abstürzte, verteuerten sich die Importe entsprechend und damit auch das Grundnahrungsmittel Reis. Heute grassieren auf den Inseln zwischen Sumatra und Neuguinea wieder Hunger und Armut wie zuletzt in den 60er Jahren.

MAI durch die Hintertür

Die im deutschen Forum Umwelt und Entwicklung zusammengeschlossenen Gruppen fordern denn auch, daß nicht über eine weitere Liberalisierung der Agrarmärkte verhandelt wird, sondern diese in bezug auf den Marktzugang in Entwicklungsländern wieder zurückgenommen wird. Besonders in Anbetracht der unsicheren Welternährungslage halten sie die gegenwärtigen Verhandlungen für äußerst bedenklich und verlangen, daß ein so heikles Thema nicht den Marktkräften überlassen werden darf.

Bei der Liberalisierung der Agrarmärkte bilden einige Entwicklungsländer gegenwärtig jedoch zusammen mit den südostasiatischen Schwellenländern, Neuseeland und den USA eine Front gegen Staaten wie Japan, Südkorea und Norwegen, die um die Existenz ihrer Kleinbauern fürchten. Auch für Südostasien ist bereits nachgewiesen worden, daß dort die Kleinbauern zu den Verlierern gehören würden. Allerdings besitzen sie in ihren Ländern wegen Kolonialismus und jahrzehntelanger Diktaturen keine politische Lobby, so daß die Positionen der Regierungen von Plantagenbesitzern dominiert werden.

Die EU ist in der Agrarfrage tief gespalten. In den meisten Ländern würde die von den USA verlangte Marktöffnung und der Subventionsabbau ein Bauernlegen auslösen. Besonders Frankreich gilt daher als Verteidiger der bisherigen Agrarpolitik. In Deutschland sieht eine starke Industrielobby den restriktiven Agrarmarkt eher als einen Hemmschuh bei der Durchsetzung des weltweiten Freihandels an. Die EU wird allerdings in Seattle mit einer Stimme verhandeln, vertreten durch ihren Handelskommissar Pascal Lamy. Marktöffnung komme nur insoweit in Frage, heißt es in einem Positionspapier des Rates der EU-Landwirtschaftsminister, wie auch andere Märkte für europäische Agrarexporte geöffnet werden. Auf einer Pressekonferenz verwahrte Lamy sich gegen den Vorwurf, die EU wolle bis auf den Agrarsektor alles verhandeln. Manches deutet daraufhin, daß sowohl die Europäer als auch die Japaner planen, im Rahmen eines umfassenden Verhandlungspaketes möglichst viele Zugeständnisse für die eigene Landwirtschaft herauszuschlagen.

Hierin liegt denn auch eine weiterer Kritikpunkt verschiedenster Umwelt- und entwicklungspolitischer Gruppen: Daß die ärmeren Länder schon allein aufgrund der Komplexität der Verhandlungen über den Tisch gezogen werden, da sie es sich nicht leisten können, den notwendigen Expertenstab zu beschäftigen. Außerdem verbirgt sich hinter der EU-Forderung nach umfassenden Verhandlungen auch der Wunsch, das zunächst gescheiterte internationale Investitionsschutzabkommen MAI im Rahmen der WTO wiederaufleben zu lassen.


30.11.1999, Kommentar

Aus dem MAI-Desaster gelernt

Die EU und die USA haben die sozialen Rechte entdeckt. Brüssels Handelskommissar Pascal Lamy und Washingtons Handelsministerin Charlene Barshevsky möchten gerne, dass die Welthandelsorganisation WTO eine Arbeitsgruppe einsetzt, die weltweite Mindeststandards umsetzen soll. Lamy läßt uns sogar wissen, dass die Frage der Aufnahme von Sozial- und Umweltklauseln zum Stolperstein bei den gegenwärtigen Verhandlungen in Seattle werden könnte.
Was er nicht erwähnte, ist, dass es nicht selten europäische Firmen sind, die davon profitieren, wenn Sonderwirtschaftszonen in Entwicklungsländern von den Regierungen zu gewerkschaftsfreien Gebieten gemacht und Arbeiterführer inhaftiert werden. Genauso wenig war zu erfahren, ob Washington die Sozial-Klauseln auch auf die Hunderttausenden von Sklavenarbeitern anwenden will, die in den US-Gefängnissen schuften müssen. Wir dürfen getrost davon ausgehen, dass das nicht der Fall sein wird.
Woher also der plötzliche Anflug von Altruismus für die Arbeiter in aller Welt (außer zu hause)?
Die bei Regierungen und Gewerkschaften im Süden weit verbreitete Furcht, es gehe letztendlich nur um Protektionismus scheint nicht gerade unbegründet. Näherliegende Aspekte kommen hinzu: Zum einen geht es um Verhandlungstaktik. Brüssel möchte unbedingt, dass über neue Themen verhandelt wird, vor allem Investitionsschutz. Die Entwicklungsländer sperren sich dagegen und wollen die bestehenden Verträge überarbeitet haben. Die Sozial- und Umweltklauseln sind Teil dieses Verhandlungspokers.
Zum anderen hat man aus dem Desaster des MAI gelernt. In Sachen WTO-Verhandlungen überschlagen sich Brüssel und Washington förmlich, ihre Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen einzubinden. Die Klauseln sollen ihnen die WTO schmackhaft machen. Bei vielen Gewerkschaften funktioniert das ganz gut. Anstatt sich mit den Opfern der Globalisierung gegen die wachsende Umverteilung des Reichtums zu solidarisieren, üben sie sich auf Konferenzen in First-Class-Hotels als Ratgeber ihrer Regierungen.
Wolfgang Pomrehn

30.11.1999

Erst die Nachteile beseitigen

Von Wolfgang Pomrehn
Bereits vor Beginn der offiziellen Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO fanden am Montag (Ortszeit) in Seattle zahlreiche Hinterzimmer-Gespräche statt. Auch die WTO-Gegner laufen sich mit ihren Aktionen langsam warm.
WTO-Generaldirektor Michael Moore zeigte sich auf einer Pressekonferenz zuversichtlich, dass es zu einer Einigung kommen wird. Öffentliche Stellungnahmen verschiedener Delegationen lassen allerdings nicht darauf schließen, dass es zu einer Annäherung der Standpunkte gekommen ist. Vertreter der 38 am wenigsten entwickelten Staaten, die sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen haben, machten noch einmal deutlich, dass Verhandlungen über neue Themen für sie derzeit nicht in Frage kommt. Zuerst, so Bangladeschs Handelsminister Tofail Ahmed, müssen aus den bestehenden Verträgen die Nachteile für Entwicklungsländer beseitigt werden. Insbesondere fordern die 38 Länder, von denen 29 Mitglied in der WTO sind, dass die Industriestaaten alle Zölle für Importe aus den ärmsten Ländern abschaffen, worauf man sich im Grundsatz bereits 1994 in Marrakesch geeinigt hatte. Die EU unterstützt diese Initiative. Ausserdem werden längere Zeiten für die Umsetzung der WTO-Verträge verlangt, die viele Länder schon von der technischen Seite vor große finanzielle Probleme stellt.
Der Anteil der von ihm vertretenen Länder am Welthandel, so Ahmed, habe sich seit der Gründung der WTO weiter verringert, schon das spreche für eine Überarbeitung der Verträge. Ausserdem weist er daraufhin, dass auch der Personenverkehr liberalisiert werden müsse. Während es in den armen Ländern nach seinen Angaben kein Problem ist einzureisen und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, haben Bürger aus diesen Ländern große Probleme, auch nur ein Touristenvisum für Industriestaaten zu bekommen.
Auch UN-Generalsekretär Kofi Anan wieß in einer vorab verteilten Grußadresse an die Konferenz auf die großen Probleme der Entwicklungsländer hin. Sie hätten ihre Zölle stärker gesenkt, als die Industriestaaten. Denen hielt der Generalsekretär vor, dass sie Fertigaren aus Entwicklungsländern im Schnitt viermal höher besteuern, als entsprechende Importe aus anderen Industrieländern. Auch er forderte, dass die reichen Länder endlich ihre Märkte für Waren aus dem Süden öffnen.
Ein weiteres Anliegen der Entwicklungsländer ist, dass der Vertrag über den Schutz intellektuellen Eigentums (TRIPS) geändert wird. Sie wollen sichergehen, dass die Patentierung von Lebensformen ausgeschlossen wird. In den vergangenen Jahren haben sich die Fälle gemehrt, dass Agro-Konzerne vor allem in den USA Patente auf Pflanzen aus Entwicklungsländern angemeldet haben. Dort befürchtet man daher eine schleichende Enteignung.
Im Rahmen des Programms, Nichtregierungsorganisationen (NGO) einzubeziehen, veranstaltete das WTO-Sekretariat am Montag ein Symposium, auf denen einige NGO die Gelegenheit erhielten, ihre Position den Delegierten darzustellen. Die meisten Kritiker blieben allerdings skeptisch und bezeichneten die Veranstaltung, wie die internationale Umweltschutzorganisation „Friends of the Earth“ als „fruchtlosen Symbolismus“.
Am Montagabend umzingelnten mehrere Tausend Demonstranten mit einer Menschenkette den Auftaktempfang der Konferenz, um die Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer zu fordern.


1.12.1999

Entwicklungsländer einig

Von Wolfgang Pomrehn
Im US-amerikanischen Seattle begann am Dienstag der offizielle Teil der dritten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO. Massive Proteste brachten zwar den Zeitplan etwas durcheinander, doch die Verhandlungen haben kaum darunter gelitten. Die finden sowieso zum überwiegenden Teil in informellen Kleingruppen statt. Diese Praxis, die den kleineren Staaten fast jede Einflussmöglichkeit nimmt, war in der Vergangenheit bei Entwicklungsländern auf heftige Kritik gestoßen. Divergierende Interessen und bei vielen auch ein Mangel an Fachleuten, die in der Lage wären, die komplexen Verhandlungen zu verfolgen, hatten jedoch bisher verhindert, dass sie sich gegen die Industrieländer durchsetzen konnten.
Diesmal könnte es allerdings etwas anders aussehen. Die in der Gruppe „G77 und China“ zusammengeschlossenen Entwicklungsländer sind sich einig, dass sie keine Verhandlungen über neue Felder der Handelsliberalisierung zulassen werden. Diese „neue Runde“ wird vor allem von der EU gefordert.
Die scheint unterdessen in Seattle in Isolation zu geraten. Die sogenannte Cairne-Gruppe, eine Interessengemeinschaft von Staaten die eine exportorientierte Agro-Industrie haben, hat sich dem Vernehmen nach mit den USA und „G77 und China“ auf einen Vorschlag zur Liberalisierung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte geeinigt, der bei der EU auf Ablehnung gestoßen ist. Der Inhalt des Vorschlags war nicht zu erfahren. Die Verhandlungen über den Agrarmarkt gelten nicht als neues Thema, da man sich bereits in den Verträgen von Marrakesch, die die Gründung der WTO besiegelten, darauf geeinigt hatte, entsprechende Verhandlungen ab dem 1.1.2000 zu führen.
Ungeachtet des erheblichen Widerstandes gegen die EU-Vorschläge, forderte EU-Handelskommissar Pascal Lamy in seinem Statement im Eröffnungsplenum die Beschleunigung des WTO-Prozesses. „Unsere Volkswirtschaften haben im enormen Umfang von der Liberalisierung des Handels profitiert und es gibt keinen Grund zu glauben, dass das auch bei einer neuen Runde der Fall wäre“, ließ Lamy die versammelten Minister wissen. Da war selbst der US Staatssekretär für Landwirtschaft, Dan Glickman schon etwas weiter, der vor der Presse eingestand, dass die Liberalisierung „bisher nicht allen Ländern in einem Maße genutzt hat, wie man es sich wünschen würde.“ Tatsächlich beklagen sich die Entwicklungsländer in Seattle vehement, dass ihr Anteil am Welthandel seit der WTO-Gründung weiter abgenommen hat.
WTO-Generaldirektor Mike Moore bedauerte gegenüber der Presse die Proteste und Blockaden. Es sei ein Unding, dass Vertretern gewählter Regierungen, wie von Indien, Südafrika oder Fiji, der Zugang zu einer Konferenz verwehrt werde. Seit dem er gegen den erbitterten Widerstand der Entwicklungsländer auf seinen Posten gekommen ist, versucht er sich als Anwalt der dritten Welt zu profilieren. Als Gewerkschaftsführer ist er in seinem Heimatland Neuseeland für die Durchsetzung eines massiven Privatisierungs-Programms verantwortlich gewesen.

2.12.1999

Wenig Annäherung

Von Wolfgang Pomrehn
In Seattle, USA, begann der zweite Tag der Konferenz der Welthandelsorganisation WTO mit ersten Arbeitsgruppen-Gesprächen. In Fragen der Biotechnologie kam es dabei zu Annäherungen. Die EU stimmte in einem gemeinsamen Arbeitspapier mit Korea, der Schweiz, Ungarn und der Türkei erstmalig der Einrichtung einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema zu. Unterschiedliche Auffassungen gibt es allerdings noch über der Zielsetzung. Umweltgruppen befürchten, dass die Einrichtung einer Arbeitsgruppe den Interessen der Produzenten gentechnisch manipulierter Pflanzen dienen wird.
Das Papier war von der EU-Kommission ausgearbeitet worden. Der britische Umweltminister Michael Meacher streitet allerdings ab, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten der neuen Position zugestimmt haben. Zusammen mit seinem französischen, belgischen, italienischen und dänischen Kollegen formulierte er einen Protest. Auch in der deutschen Delegation soll sich dem Vernehmen nach Unmut regen. Agrar-Kommissar Fischler bestand allerdings gegenüber der Presse in Seattle darauf, dass es im Rat der Wirtschaftsminister eine „qualifizierte Mehrheit“ für die neue Position gegeben habe.
Von Umweltgruppen wurde das Nachgeben gegenüber einer alten Forderung der USA scharf kritisiert. Bisher hatte die EU gefordert, dass entsprechende Fragen im Rahmen der Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt behandelt werden müssen. Dort liegt bereits der Entwurf eines Protokoll über biologische Sicherheit vor, dass den Mitgliedsländern erlauben würde, die Einfuhr gentechnisch manipulierter landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu verbieten. Umweltschützer befürchten, dass die Einrichtung der Arbeitsgruppe der entscheidende Schritt ist, die WTO-Regularien auch auf den Gentechniksektor auszudehnen. „Die Einrichtung der Arbeitsgruppe,“ heißt es bei den Konferenz-Beobachtern vom deutschen Forum für Umwelt und Entwicklung, „ist absolut fatal für die Verbraucherinteressen in Europa und die Interessen der Dritten Welt.“
In Sachen Liberalisierung der Agrarmärkte machte EU-Kommissar Fischler in Seattle am Mittwoch (Ortszeit) noch einmal klar, dass die EU darauf besteht, dass nicht über die Abschaffung der Exportsubventionen, sondern nur über deren Reduktion gesprochen wird. Damit steht die Gemeinschaft isoliert da. Die USA hatte sich bereits am Dienstag mit anderen Staaten auf einen Entwurf geeinigt, in dem die Abschaffung gefordert wird. Sophia Murphy vom US-amerikanischen Institut für Landwirtschaft und Handelspolitik kritisiert den Vorschlag der USA, da er keine Vorkehrungen zur Sicherung der Ernährung vorsieht. Neben vielen anderen warnen auch deutsche Nichtregierungsorganisationen in Seattle davor, die Welternährung allein dem Spiel der Marktkräfte zu überlassen.
Widerspruch besteht auch in der Frage, ob landwirtschaftliche Erzeugnisse vertraglich wie Industriegüter behandelt werden sollen oder nicht. Die EU besteht auf der sogenannten multifunktionalen Aufgabe der Landwirtschaft und hofft damit einen Teil ihrer Agrarsubventionen retten zu können. Gedacht wird unter anderem daran, Landwirte für umweltschonendes Wirtschaften zu belohnen. Bei vielen Entwicklungsländern stößt diese Position allerdings auf wenig Verständnis. Sie befürchten, dass die EU einfach ihre bisherige Praxis fortsetzen will. „Multifunktionalität ist ein Witz“, so Henk Campher vom südafrikanischen Gewerkschaftsverband NACTU.
Auch in der Frage der neuen Themen gibt es wenig Annäherung. Die EU besteht nach wie vor darauf, dass in der neuen Verhandlungsrunde über Investitionsschutz gesprochen wird. Zuletzt unterstrich Wirtschaftsminister Müller diese Position noch einmal in seiner Rede vor der Konferenz. Eine Mehrheit der Mitgliedsländer lehnt diese Ansinnen jedoch weiter ab.
Den Entwicklungsländern geht es vor allem um die Überarbeitung der jetzigen Anti-Dumping-Regeln, in denen sie eine Form verdeckten Protektionismus sehen. Unterstützung in dieser Frage haben sie vor allem von Japan. Außerdem werden die Verlängerung von Anpassungsfristen und die Revision des Textilabkommens gefordert.
Um die Position der Entwicklungsländer bei Streitfragen vor dem WTO-Schiedsgericht zu stärken, wurde am Dienstagabend ein Dokument zur Schaffung eines Rechtsfonds unterzeichnet. Nach Angaben des WTO-Sekretariats wird er mit sechs bis sieben Millionen Dollar ausgestattet.

3.12.1999

Gespräche in Gefahr

Von Wolfgang Pomrehn
In Seattle sind die Gespräche über die Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des internationalen Handels in ernster Gefahr. Auf der dritten Ministertagung der Welthandelsorganisation, die derzeit in der US-amerikanischen Hafenstadt tagt, machte sich am dritten Verhandlungstag Frustration breit. Der britische Handelsminister Stephen Byers fasste es in den Worten zusammen, die Lage sei „ziemlich deprimierend“. Vor allem Delegierte aus Entwicklungsländern beschwerten sich darüber, dass ihre Anliegen nicht berücksichtigt werden. Auf besondere Kritik stieß, die mangelnde Transparenz der Verhandlungen. Die Minister der Organisation für Afrikanische Einheit OAU entschlossen sich daher am späten Donnerstagabend (Ortszeit) zu einem ungewöhnlichen Schritt: In einer an die Presse verteilten Erklärung drohen sie an, dem Arbeitsauftrag und Zeitplan für die Verhandlungsrunde ihre Zustimmung zu verweigern. Damit wäre die Seattler Konferenz gescheitert, denn nach den WTO-Regularien können Beschlüsse nur im Konsens gefasst werden.
Streitpunkt ist, dass viele Entscheidungen nicht in den dafür vorgesehenen Arbeitsgruppen getroffen werden, die für alle Delegationen offen sind. Vielmehr finden die wichtigsten Verhandlungen in kleineren Gruppen statt, von denen die meisten Entwicklungsländer zumeist ausgeschlossen bleiben. Viele Staaten haben zudem Probleme, mit ihren vergleichsweise kleinen Delegationen alle Treffen zu verfolgen und in der komplexen Materie auf dem laufenden zu bleiben. Dem Vernehmen nach bereiten auch ein Reihe lateinamerikanischer und karibischer Staaten eine ähnliche Erklärung vor. Unter anderem heißt es in einer Vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangten Version, dass man wegen der von der Verhandlungsführung geäußerten Absicht besorgt sei, einen Resolutionstext um jeden Preis verabschieden zu wollen.
Die Vorsitzende der Verhandlungen, US-Handelsministerin Charlene Barshefski, stellte am Donnerstag zwar noch einmal heraus, dass sie die Tagung am Freitagabend um 18 Uhr Ortszeit (3 Uhr MEZ) abgeschlossen haben will, doch geht hier kaum noch jemand davon aus, dass das Ziel zu erreichen ist. Wahrscheinlicher ist, dass die Uhr angehalten werden muss. Hinter den Kulissen machen bereits Gerüchte um einen ganzen Tag Verlängerung die Runde.
Die Straßen Seattles waren auch am Donnerstag von Demonstrationen und einem martialischen Aufgebot aus Polizei und Nationalgarde geprägt. Rund 1000 bis 1500 Kleinbauern aus aller Welt demonstrierten gegen Liberalisierung, Agro-Business und Gentechnik. Der französische Bauernführer José Bové rief Bauern und Umweltorganisationen in aller Welt dazu auf, sich in ihrem Kampf gegen die Macht der Konzerne in einem ersten Schritt auf die Gentechnik zu konzentrieren. Ein anderer Protestzug bewegte sich zum Stadtgefängnis, um die Freilassung von mehreren Hundert arrestierten zu verlangen. Die Polizei hielt sich am Donnerstag weitgehend zurück. Am Vortag hatte es allein 100 durch Plastikgeschosse verletzte Demonstranten gegeben. Mit zur neuen Besonnenheit der Beamten dürfte die wachsende Kritik an ihren gewalttätigen Einsätzen geführt haben, die sich in Leserbriefen und Anrufen beim lokalen Fernsehsender äußert.

5.12.1999

Gespräche gescheitert

Von Wolfgang Pomrehn
Die Gespräche zur Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde über die weitere Liberalisierung des internationalen Handels sind am Freitagabend (Ortszeit) vorerst gescheitert. Die Wirtschaftsminister der 135 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation WTO konnten sich in Seattle nicht auf Tagesordnung und Zeitplan einigen. Widersprüche zwischen der großen Mehrheit der Entwicklungsländer und den Industriestaaten erwiesen sich als unüberbrückbar.
Am späten Abend musste die sichtlich erschöpfte Verhandlungsleiterin, US-Handelsministerin Charlene Barshefsky, vor dem Abschlussplenum den Misserfolg eingestehen. Die WTO sei mit ihren bisherigen Strukturen offensichtlich nicht mehr in der Lage, die komplexen neuen Aufgaben zu bewältigen. Generalsekretär Mike Moore solle daher in den kommenden Monaten in Gesprächen mit den Mitgliedern die Reform der bisherigen Prozeduren beraten. Die Verhandlungen über Landwirtschaft und Dienstleistungen würden aber auf jeden Fall, wie in den Verträgen vorgesehen, im Januar beginnen.
Damit ist die vor allem von der Europäischen Union und einigen anderen Industriestaaten angestrebte umfassende Verhandlungsrunde vorerst nicht zu Stande gekommen. Die EU hatte vor allem darauf gedrängt, in Rahmen der WTO ein Investitionsschutzabkommen zu verankern, wie es zuvor bereits unter dem Namen MAI in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) diskutiert worden war aber schließlich an erheblichen öffentlichen Protesten in Frankreich und Kanada scheiterte. Desweiteren war der EU besonders daran gelegen, eine Verpflichtung zur internationalen Ausschreibung öffentlicher Aufträge durchzusetzen.
Nachdem Scheitern der Seattler Verhandlungen kündigte EU-Agrarkommissar Franz Fischler an, dass man sich an die bereits gemachten Zugeständnisse in Bezug auf Liberalisierung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte nicht mehr gebunden fühlt. Die Verhandlungen müssten von vorne beginnen. Gleichzeitig erinnerte er erneut an die EU-Position, dass nichts vereinbart ist, bevor es nicht eine umfassende Eingung gibt. Im Klartext heißt das, dass die EU nur dann zur Öffnung ihrer Märkte und zum Abbau ihrer Exportsubventionen für Agrarprodukte bereit ist, wenn die von ihr gewünschte große Verhandlungsrunde zu Stande kommt und ihre Wünsche dort erfüllt werden.
Der Fehlschlag in Seattle war vor allem ein Ergebnis des weitgehenden Ausschlusses der Entwicklungsländer. Alle wesentlichen Verhandlungen fanden in informellen Gesprächen zwischen kleinen Gruppen statt, zu denen meist die Leiter der verschiedenen Arbeitsgruppen die „wichtigsten“ Länder einladen. Eine Praxis, die bereits im Rahmen der Uruguay-Runde, die der Gründung der WTO vorausging, gepflegt wurde. Die Entwicklungsländer werden dabei meist übergangen. So war z.B. zu Gesprächen über eine Überprüfung des Abkommens zum Schutz Intellektuellen Eigentums (TRIPS) kein einziges afrikanisches Land eingeladen worden, obwohl die afrikanischen Staaten vehement Änderungen im TRIPS fordern. Vor allem verlangen sie, dass das Recht, Lebensformen zu patentieren, wieder abgeschafft wird.
Während die Entwicklungsländer vor einigen Jahren diese undemokratische Praxis noch zähneknirschend in Kauf genommen haben, regte sich diesmal Widerstand. Um so mehr, als die meisten Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas feststellen müssen, dass die von der WTO erhofften Vorteile ausbleiben, da die Industriestaaten ihre Einfuhrzölle und sonstigen Hürden nicht abbauen. Am Donnerstagabend hatten daher verschiedene Gruppen afrikanischer, karibischer und südamerikanischer Staaten angedroht, dass sie angesichts der mangelnden Transparenz und ihres Ausschlusses von den effektiven Verhandlungen ihre Zustimmung verweigern könnten.
In den Abschlusserklärungen Barshefskys und Moores war denn auch davon die Rede, dass die Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der WTO erhöht werden müssten, bevor eine neue Verhandlungsrunde eröffnet werden könne. Auch Gruppen der Zivilgesellschaft sollten einbezogen werden. Was unter Transparenz zu verstehen ist, bekamen die Journalisten auf der abschließenden Pressekonferenz demonstriert: Mehrere dutzend Polizisten nahmen mit Schlagstock und Pistole bewaffnet an den Seiten Aufstellung und hinderten eine Greenpeace-Vertreterin daran, Pressemitteilungen zu verteilen.

5.12.1999

Verhandlungen geplatzt

Die Verhandlungen sind geplatzt. Monatelange Vorgespräche in Genf und ein aufwendiges Ministertreffen in Seattle reichten nicht, um die Widersprüche zwischen Entwicklungsländern und dem reichen Norden zu überbrücken. Die einen wollen, nach dem sie viele bittere Pillen haben schlucken müssen, endlich auch ein paar Vorteile sehen und fordern daher Nachbesserung, die anderen wollen alte Privilegien nicht aufgeben, dafür aber neue hinzu bekommen. Auf diese etwas vereinfachte Formel lässt sich der Streit in der WTO bringen.
Aber mit dem Flop in Seattle ist er nicht ausgestanden. Die Entwicklungsländer mögen zwar widerspenstig sein, doch in Europa ertrinken - den leeren öffentlichen Kassen zum Trotz - Konzerne und Banken in Kapital, dass nach Anlagemöglichkeiten schreit. Die sollen abgesichert werden, weltweit. Rund um den Globus soll der öffentliche Sektor aufgebrochen und selbst Bildung, Gesundheit und die prekäre Wasserversorgung privatisiert werden. Noch die letzte Lerbensäußerung will man in die Warenproduktion, in die Logik des freien Marktes einbeziehen, der vor allem von einem frei sein wird: von sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit.
Das ganze möchte sich die EU in einer Art internationalem Handelsgesetzbuch, nämlich neuen WTO-Verträgen, absichern lassen. Deshalb wird sie auch nicht locker lassen, damit die von ihr gewünschte neue Verhandlungsrunde doch noch zu Stande kommt. Notfalls werden die Agrarverhandlungen als Druckmittel genutzt. Die USA wollen zwar auch gerne den einen oder anderen neuen Paragrafen, sind aber ansonsten eher pragmatisch: Sie vertrauen ganz auf das Recht des Stärkeren.
All jene, die, ob in Deutschland, den USA, Bangladesch oder Nigeria, von der wachsenden Macht der Konzerne nur Schlimmes zu befürchten haben, können sich zwar über die Atempause freuen, zurücklehnen sollten sie sich deshalb noch lange nicht. Eher sind Überlegungen angesagt, wie sie sich künftig besser koordinieren. Die Forderungen europäischer und amerikanischer Gewerkschaften nach einer Sozialklausel in den WTO-Verträgen sind dafür ein besonders negatives Beispiel: Washington und Brüssel haben sie im Verhandlungspoker in Seattle - und werden es auch in Zukunft tun - mit Bravour als Waffe gegen die Entwicklungsländer eingesetzt. Den Arbeitern in diesen Staaten hat diese Forderung damit einen Bärendienst erwiesen.
Wolfgang Pomrehn

6.12.1999

Wem nützen die Sozialklauseln?

Von Wolfgang Pomrehn
Während in Seattle das Gros der fast 600 festgenommenen Demonstranten am Sonntag freigelassen wurde, beginnt die amerikanische Presse Bilanz zu ziehen. Fünf Tage haben die meist jungen Leute im Kreisgefängnis gesessen für „Verbrechen“ wie auf der Straße sitzen oder weniger. Gegen gerade ein Dutzend hat die Staatsanwaltschaft genug in der Hand, um ihnen schwerere Delikte vorzuwerfen. Die Freigelassenen berichten von Mißhandlungen in der Haft. Von Schlägen ist die Rede, dem Einsatz der chemischen Keule und Isolierung in speziellen Einzelhaft-Strafzellen. Eine Anwaltsvereinigung hilft den Betroffenen, Klagen gegen die Gefängnisverwaltung vorzubereiten.
Unterdessen fragen hiesige Journalisten, ob US-Präsident Bill Clinton den Eklat auf der WTO-Ministerkonferenz vielleicht bewusst herbei geführt, oder zumindest billigend in Kauf genommen hat. Einiges spricht dafür. Clinton war kaum in der Stadt angekommen, da ließ er die Minister schon über Zeitungsinterviews wissen, dass die Aufnahme von Sozial- und Umwelt-Klauseln in die WTO-Verträge für ihn unabdingbar ist.
Das musste wie Sand im Verhandlungsgetrieb wirken, schließlich war die hartnäckige Ablehnung dieser Forderung durch eine geschlossene Front der Entwicklungsländer seit langem bekannt. Und diese Länder waren vom bisherigen Verhandlungsverlauf durch den Ausschluss von wichtigen Gesprächen und die tauben Ohren, auf die sie allenthalben trafen, schon frustriert genug.
Beim Internationalen Bund Freier Gewerkschaften, dem auch der deutsche DGB angehört, und dem US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL/CIO fanden Clintons Äußerungen hingegen reichlich Applaus. Das, so meinen hiesige Analysten, sind denn auch die eigentlichen Adressaten Clintons gewesen. Im nächsten Jahr sind in den USA Präsidentschaftswahlen und Clintons Wunschkandidat Al Gore, der jetzige Vize, ist auf die Stimmen der Gewerkschafter angewiesen. Der AFL/CIO hat bereits angekündigt, dass er Gores Kampagne materiell und personell unterstützen wird. Der Preis, machten führende Funktionäre in Seattle wiederholt deutlich, sind die Sozial-Klauseln.
Die Frage ist allerdings, was dieser Preis wert ist. Auf jeden Fall geben die Gewerkschaften, die auch in Europa lautstark für Sozial-Klauseln werben, die Solidarität mit den Ländern des Südens auf. Die fühlen sich nämlich an die Seite gedrängt. Wenn immer sie auf die Probleme hinweisen, die sie mit den bestehenden Verträgen haben, antworten ihnen die USA und die EU mit Sozial-Klauseln. Vor allem die EU nutzt die Diskussion um die Klauseln auch, um die Tagesordnung für neue Themen zu öffnen. Aus diesem Grunde sind auch die meisten  Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aus dem Süden gegen diese Forderung, da sie zuerst die Nachteile beseitigt haben wollen, unter denen ihre Länder leiden. Vor allem verlangen sie, dass der Norden endlich seine Grenzen nennenswert für Produkte aus dem Süden öffnet. Angesichts der immer noch hohen Zölle für ihre Waren und vor allem angesichts des häufigen Rückgriffs auf Anti-Dumpingmaßnahmen halten sie die Klauseln für maskierten Protektionismus.
Nur fünf Länder haben in Seattle die Position Washingtons und Brüssels unterstützt: Die Schweiz, Ungarn, Chile, Südkorea, wo derzeit rund 400 Gewerkschafter in den Gefängnissen sitzen, und die Türkei, die in Kurdistan Gewerkschafter foltern läßt. Das allein sagt eigentlich schon alles.
Amerikanische und europäische Gewerkschaften täten besser daran, sich um die Folgen der Exportpolitik ihrer Staaten für andere Länder zu kümmern. Nicht selten schafft diese erst die Bedingungen, die den Arbeitsmarkt mit Menschen überschwemmt, die gezwungen sind, Arbeit zu den schlechtesten Bedingungen anzunehmen. Ob in Polen, Mexiko oder auf den Philippinen: Wo immer Staaten ihre Grenzen für die Waren der großen Handelsmächte öffnen (müssen), verderben die reichlich subventionierten Agrarexporte der EU und der USA den Kleinbauern die Preise und zerstören deren Existenzen. Die logische Folge: Die Bauern müssen ihr Land aufgeben, ziehen in die Städte und drängen als Billigst-Arbeitskräfte auf den Markt. An diesen simplen ökonomischen Fakten wird auch keine noch so schön formulierte Sozialklausel etwas ändern.

6.12.1999

Verhandlungen gescheitert

Übersichtsartikel

Aus der Seattle-Runde wird nichts. Am Freitag vergangener Woche sind in der nordwestamerikanischen Hafenstadt die Gespräche zur Vorbereitung eines neuen Verhandlungsmarathons für einen Ausbau des Regelwerks der Welthandelsorganisation WTO geplatzt. Der tiefe Graben zwischen Industristaaten und Entwicklungsländern konnte nicht überbrückt werden. Letztere wehrten sich insbesondere gegen die Aufnahme neuer Themen in den Verhandlungskatalog. Erst müsse der Norden seinen Verpflichtungen im Bezug auf Erleichterung des Marktzugangs nachkommen. Zunächst müssten die bestehende Verträge überarbeitet werden, um Nachteile für die Länder des Südens auszubügeln, fordern die in der Gruppe der 77 und China zusammen geschlossenen Staaten. Erst dann könne die vor allem von der Europäischen Union favorisierte Millenium-Runde eröffnet werden. Unberührt von dem Desaster in Seattle bleiben Verhandlungen über die Liberalisierung des Agrarmarktes und Fragen des Dienstleistungsverkehrs. Sie sind bereits in den WTO-Gründungsverträgen vorgesehen und werden wie vereinbart im Januar beginnen.
Pech vor allem für die EU. Nachdem im Herbst 98 das Multilaterale Abkommen über Investitionsschutz (MAI) in der OECD gescheitert war, setzt sie darauf, entsprechende Regeln innerhalb des WTO-Vertragswerks festzuschreiben. Ein besonderes Anliegen ist es ihr dabei auch, die internationale Ausschreibung öffentlicher Aufträge zwingend zu machen. EU-Agrarkommissar Franz Fischler ließ allerdings durchblicken, dass man in den Agrarverhandlungen mauern werde, solange die neue Runde nicht zu Stande kommt. An die in den bisherigen Verhandlungen gemachten Zugeständnisse würde man sich nicht mehr gebunden fühlen, denn es bleibe dabei, dass nichts vereinbart ist, solange nicht ein umfassendes Paket geschnürt ist.
Der Hintergrund der europäischen Bemühungen um ein neues MAI unter anderem Namen ist, dass sich seit Mitte der 80er die ausländischen Direktinvestitionen weltweit verachtfacht. Seit etwa vier Jahren hat sich das Zuwachstempo noch ein mal drastisch erhöht. Der überwiegende Teil der Kapitalflüsse findet immer noch zwischen den Industriestaaten statt, die damit ihre gegenseitige ökonomische Durchdringung weiter vorantreiben, aber die Investitionen in Entwicklungsländern und in Mittel- und Osteuropa wachsen wesentlich schneller. Die EU, deren Länder zu den größten Kapitalexporteuren gehören und zusammengenommen die USA erheblich überrunden, möchte ihre Auslandserwebungen besser abgesichert haben.
Ein Problem, das den Entwicklungsländern nicht gerade auf den Nägeln brennt. Die haben eher damit zu kämpfen, dass sie bisher vergeblich auf die Früchte der WTO-Verträge warten. Während sie ihre Grenzen mehr und mehr für Importe und Unternehmen aus dem Norden öffnen, sind USA und EU sehr zögerlich, wenn es um den Marktzugang für Produkte aus dem Süden geht. Erleichterungen würden oftmals an politische Bedingungen geknüpft, wirft die Gruppe der 77 und China dem Norden vor. Namentlich die Antidumping-Regeln der WTO würden benutzt, um Importen aus Entwicklungsländern die Tür zu versperren, und müßten daher überarbeitet werden. Insbesondere gilt das für den textilsektor, der eigentlich durch eine schrittweise Anhebung der Einfuhr-Quoten hätte liberalisiert werden sollen. In den fünf Jahren des Bestehens der WTO haben jedoch die Entwicklungsländer in diesem Bereich ihre Exporte in den Norden nicht nennenswert ausbauen können. Es existiere eine beachtliche Inbalance zu Ungunsten der Entwicklungsländer im Bezug auf die Rechte und Pflichten.
Angesichts dessen ist man in Delhi oder Daressalam, in Jakarta oder Johannesburg mehr als skeptisch wenn die reichen Länder mit Sozial- und Umweltklauseln kommen, die sie in die Verträge aufgenommen haben wollen. Die G77 und China vermutet dahinter vor allem neue Formen protektionistischer Abschottung. Auch verhandlungstaktische Gründe spielen bei der Ablehnung eine Rolle: „Wir sind im Prinzip durchaus für Sozialklauseln“, meint z.B. Henk Campher vom südafrikanischen Gewerkschaftsverband NACTU. „Wir befürchten jedoch, dass sie die Verhandlungen von den Punkten ablenkt, die für unsere Länder vor allem auf dem Programm stehen: Landwirtschaft und Dienstleistungen.“
Die Verhandlungsführung Washingtons und Brüssels scheint ihm da durchaus Recht zu geben: Während auf die Forderung der Entwicklungsländer kaum ernsthaft eingegangen wurde, machten sowohl US-Präsident Clinton als auch die EU-Kommission massiven Druck für die Aufnahme der Klauseln in den Verhandlungskatalog. EU-Handelskommissar Pascal Lamy erklärte sie im Vorfeld der Konferenz sogar zu einem möglichen Stolperstein. Offenbar ist man beiderseits des Atlantiks bemüht, aufkeimenden Unmut über der Gewerkschaften die nachteiligen Auswirkungen der Globalisierung für Arbeiter aufzugreifen. Man gibt ihnen damit das Gefühl, gehört zu werden und benutzt sie gleichzeitig als Druckmittel gegen die Entwicklungsländer, um denen im Verhandlungspoker mehr Zugeständnisse abzuringen.
Die erhofft sich die EU nicht nur in Sachen ihres MAI-Clones sondern auch in der Agrarpolitik. Hier möchte sie nicht auf ihre Exportsubventionen verzichten, sonder erklärt sich bestenfalls zur Senkung bereit. Die Entwicklungsländer verlangen hingegen, dass der Agrarmarkt in die normalen WTO-Regularien einbezogen wird, was einen Abbau der Handelshemmnisse und Subventionen bedeuten würde. Einige Staaten, die zur sogenannten Cairns-Gruppe gehören, wie die Philippinen, Malaysia, Indonesien und Brasilien, verlangen gar eine vollständige Liberalisierung. Bei den Verhandlungen um Dienstleistung wird vor allem Reisefreiheit für Bürger aus dem Süden gefordert.
Auch die Entwicklungsländer, wurde in Seattle deutlich, sprechen sich durchaus für eine Liberalisierung des Welthandels aus, sofern diese der Entwicklung ihrer Staaten dient. Die Proteste in Seattle stießen daher bei manchem Delegierten aus dem Süden eher auf Unverständnis. „Sicher“, so ein Mitglied der südafrikanischen Delegation, „die Multis dominieren in der WTO. Aber wir brauchen internationale Regeln, denn ohne diese wäre die Herrschaft der Konzerne noch viel schlimmer.“
Der Eklat in Seattle wurde vor allem durch einen Mangel an Transparenz und Mitspracherechten für Entwicklungsländer verursacht. Wie bereits in der Uruguay-Runde, die der WTO-Gründung vorausgegangen war, fanden auch in Seattle die wichtigsten Verhandlungen in kleinen Gruppen hinter verschlossener Tür statt. Die ärmeren Länder, die sich meist nur kleine Delegationen leisten konnten, hatten Schwierigkeiten, überhaupt auf dem Laufenden zu bleiben und fanden sich oft ausgeschlossen. Zu Gesprächen über das Abkommen für den Schutz intellektuellen Eigentums (TRIPS) war z.B. kein einziges afrikanisches Land eingeladen worden. Das traf bei diesen auf besondere Empörung, da sie gemeinsam die Änderung des TRIPS-Artikels 27 (3b) fordern, damit künftig Patente auf Lebensformen nicht mehr möglich sind. Als eine Konsequenz aus dem Debakel erhielt WTO-Generalsekretär Mike Moore den Auftrag, mit den Mitgliedsländern über eine Reform der WTO-Strukturen zu beraten, bevor neue Gespräche über eine Millenium-Runde aufgenommen werden.
Während sich Regierungen und soziale Bewegungen der Entwicklungsländer in der Kritik an der Verhandlungsführung in Seattle einig waren, gingen in anderen Fragen die Meinungen weit auseinander. Besonders bei der Agrarpolitik wurde das deutlich. Länder wie die Philippinen vertreten hier vor allem die Interessen des heimischen Agro-Business, dass für den Exportmarkt produziert und die Kleinbauern verdrängt. Rafael V. Mariano von der Bauernbewegung der Philippinen KMP berichtete in Seattle, wie die Marktöffnung in vielen Ländern die Nahrungsmittelversorgung untergraben hat. In Indien sei die Anbaufläche für die Grundversorgung mit der Liberalisierung zurückgegangen. Mexiko habe vor dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen 20% seiner Lebensmittel importiert. 1996 waren es bereits 43%. Auch in den Philippinen würden die Reisimporte rapide zunehmen und den Bauern, die den heimischen Bedarf noch vor wenigen Jahren vollständig decken konnten, die Preise kaputt machen. Die Folge: Wachsende Armut auf dem Land. Immer mehr Bauern seien gezwungen, sich bei Großgrundbesitzern als Landarbeiter zu verdingen. Dort verdienen sie oftmals nur 60 bis 90 Pesos pro Tag (ca. 3 bis 5 DM).
Der nordamerikanische Agro-Konzern Cargil, berichtet Mariano weiter, verkauft Mais auf dem philippinischem Markt zu einem Preis, der nur die Hälfte der Produktionskosten örtlichen Bauern beträgt. Der Mais komme allerdings von Landwirten, die dafür in den USA pro Jahr 29000 Dollar an Subventionen bekommen, mehr, als ein philippinischer Maisbauer in seinem ganzen Leben verdienen könne, rechnet der KMP-Vorsitzende vor. Für den asiatischen Inselstaat hat das verheerende Auswirkungen: Das Landwirtschaftsministerium schätzt, dass 1998 150000 Tonnen Mais auf den Feldern verrotteten, weil sich die Ernte nicht lohnte.
Doch Manila denkt nicht daran, seine Kleinbauern zu unterstützen. Während es für sie keinerlei Subventionen gibt, wird der großflächige Anbau von Exportprodukten mit Steuererlassen und Infrastrukturprogrammen gefördert. Präsident Estrada will sogar die Verfassung ändern, um ausländischen Gesellschaften den hundertprozentigen Erwerb von landwirtschaftlichem Boden zu ermöglichen. 80000 Bauern demonstrierten am 21. Oktober dagegen.
Ihr Verband, der KMP, fordert daher, dass der Agrarsektor wieder aus dem WTO-Paket herausgenommen wird. Eine Forderung, die die in Seattle versammelten Bauernorganisationen teilten. Auf einem Forum zu Fragen von Landwirtschaftspolitik und Ernährungssicherung waren sich Kleinbauern aus Frankreich, Lateinamerika, Indien, Bangladesch, Kanada und den USA einig, dass man künftig international zusammenarbeiten müsse. Wenn also im Januar in Genf die Verhandlungen über eine weitere Liberalisierung des Agrarmarktes beginnen, ist sicherlich mit Bauernprotesten rund um den Globus zu rechnen.
Wolfgang Pomrehn