Am 30. November beginnt im US-amerikanischen Seattle das dritte Ministertreffen der Welthandelsorganisation WTO. Die Vertreter von 135 Mitgliedsstaaten werden erwartet, eine ganze Reihe weiterer Regierungen werden Beobachter schicken. Wie kaum eine andere internationale Konferenz zuvor, zieht das WTO-Treffen seit Monaten rund um den Globus die Aufmerksamkeit von Gewerkschaften und Aktionsgruppen, Umweltorganisationen und entwicklungspolitischen Initiativen auf sich. Zahlreiche Proteste sind angekündigt.
Seit Anfang November bewegt sich eine Karawane der Gegner durch Kanada Richtung Seattle. Mit gutem Grund: Vor allem die Regierungen der Industriestaaten, aber auch der meisten Schwellenländer erwarten von Seattle den Startschuß für eine Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels, die sogenannte Millenniumsrunde. Drei Jahre soll sie dauern, besagen die bisherigen Planungen. Erfahrungen mit ihrem Vorläufer, der Uruguay-Runde, aus der 1995 die WTO hervorging, lassen allerdings eher erwarten, daß sich die Verhandlungen über einen wesentlich längeren Zeitraum erstrecken werden.
In Seattle im Bundesstaat Washington wird es vor allem um Tagesordnung und Zeitplan dieser Verhandlungen gehen. Als Thema zur Diskussion steht zunächst die sogenannte »built-in agenda« fest, d. h. Gespräche über die Liberalisierung des Agrar- und Dienstleistungssektors. Die waren bereits bei der Unterzeichnung des WTO-Vertrages 1994 im Marrakesch vereinbart worden. Des weiteren wird es um WTO-interne Fragen wie Transparenz der Entscheidungsprozesse und Einbeziehung der Mitgliedsstaaten gehen. Außerdem werden Fragen, die man bereits seit der ersten WTO-Tagung in Singapur verhandelt, weiter besprochen werden wie z. B. die internationale Ausschreibung öffentlicher Aufträge, Erleichterungen für ausländische Investoren sowie Handelserleichterungen. Schließlich wollen die EU und die USA auch die Frage von Sozial- und Umweltklauseln auf die Tagesordnung setzen. Damit beißen sie allerdings bei vielen anderen Ländern auf Granit. Auf einem Seattle-Vorbereitungstreffen in Genf Anfang des Monats standen sie mit entsprechenden Forderungen allein da.
Während westeuropäische und US-amerikanische Gewerkschaften von ihren Regierungen die Einführung der Sozialklauseln verlangen und die EU hiesige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Umweltklauseln zu ködern versucht, lehnen Bürgerkomitees, Frauengruppen, NGOs aller Art, kritische Wissenschaftler und viele Gewerkschaften in den meisten Mitgliedsländern die Verhandlungen ab. In einer von etlichen hundert Gruppen aus aller Welt unterzeichneten Erklärung wird ein sofortiger Stopp der weiteren Liberalisierung des Welthandels gefordert. Ein Verhandlungsmoratorium müsse her, um die bisherigen Folgen der WTO-Politik zu untersuchen: »Die Ergebnisse der Uruguay-Runde und die Etablierung der WTO wurden zu Mitteln erklärt, die der Schaffung und Erweiterung globalen Reichtums und allgemeiner Prosperität dienen, die zur Förderung des Lebensstandards aller Menschen in allen Mitgliedsländern führen werden. In Wirklichkeit hat jedoch die WTO in den fünf Jahren ihrer Existenz zur Konzentration des Reichtums in den Händen weniger beigetragen, hat für die Mehrheit der Weltbevölkerung wachsende Armut gebracht und die Verbreitung nicht- nachhaltiger Produktions- und Verbrauchsmuster gefördert.«
Zwang zur Marktöffnung
Tatsächlich gibt ein historischer Rückblick den Kritikern recht. Während die Befürworter des Freihandels diesen als Motor weltweiter wirtschaftlicher Entwicklung feiern sprechen die Fakten eine andere Sprache. Alle Staaten, denen es in den vergangenen 200 Jahren gelang, sich zu industrialisieren, haben zunächst ihren Binnenmarkt gegen die ausländische Konkurrenz geschützt. An erster Stelle stand zunächst das Abkupfern importierter Waren, d. h. die Verletzung des Patentrechts. Erst nachdem der Produktivitätsrückstand aufgeholt war und der heimische Markt für den Absatz der erzeugten Produkte nicht mehr reichte, wurden die Grenzen schrittweise geöffnet. Das passierte Ende letzten Jahrhunderts in Deutschland, einige Jahrzehnte später in Japan und in jüngster Zeit in Taiwan und Südkorea, denen diese Möglichkeit aufgrund ihrer besonderen Bedeutung im Kalten Krieg eingeräumt wurde. Andere Länder, die weniger glücklich waren, wurden zu einer frühzeitigen Öffnung ihrer Märkte für billige Industrieprodukte aus dem industrialisierten Norden gezwungen. Dort konnte sich nie eine nennenswerte unabhängige Industrie entwickeln.
Hunger und Armut
Jüngstes Beispiel sind hierfür die Philippinen, die seit Beginn der 60er Jahre eine Politik der offenen Grenzen betreiben. Während Südkorea im gleichen Zeitraum mit einer protektionistischen staatlichen Industrialisierungspolitik den Sprung vom Agrarland und einem der ärmsten Staaten der Welt in den Kreis der führenden Industrienationen schaffte, sind die Philippinen nach wie vor ein abhängiger Staat ohne eigenständige industrielle Basis. Der Einzelhandel befindet sich fest in der Hand US-amerikanischer Ketten, und in den zahlreichen Sonderwirtschaftszonen tummeln sich ausländische Unternehmen, die ihre steuerlich längst abgeschriebenen Maschinen noch ein paar Jahre mit billigster Arbeitskraft weiterlaufen lassen wollen. (AP-Foto: Landarbeiter verbrennen in Manila ein symbolisches Eigentümer-Zertifikat, das den Kauf der Philippinen durch die USA beurkundet)
Der Inselstaat verbuchte zwar in den letzten Jahren einen enormen Anstieg seiner industriellen Exporte, mußte allerdings fast im gleichen Umfang importieren, da die neugeschaffene Industrie zumeist aus Montagebetrieben besteht, in denen die Produkte nur wenig Wertzuwachs erhalten. Trotz eines erheblich infrastrukturellen Aufwands (Bau von Autobahnen und Hafenterminals, zu deren Zweck in Manila Hunderttausende Slumbewohner vertrieben wurden) bleibt somit nur wenig Kapital und Kaufkraft im Land zurück. Die Philippinen sind damit auch ein Musterbeispiel für den Welthandel nach dem Geschmack der Konzerne in den OECD-Staaten. Einzelkomponenten werden dort produziert, wo es gerade am billigsten ist, und dann zur Montage um den halben Globus transportiert.
Dementsprechend nahm im vergangene Jahrzehnt das Volumen des Welthandels rund doppelt so schnell zu wie das weltweite Bruttosozialprodukt. Selbst im Krisenjahr 1998 war das noch der Fall.
Angesichts dieser Sachlage sollte man meinen, daß sich in Seattle geschlossene Fronten von Industrie- und Entwicklungsländern gegenüberstehen werden. Doch die Lage ist komplizierter. Viele Schwellenländer erhoffen sich vom Fall der Zollschranken Absatzchancen für ihre konkurrenzfähigen Waren für den Massenmarkt. Dabei geht es nicht zuletzt um Textilien, aber auch um Erzeugnisse der Informationstechnologie, wie Computerchips, PCs und ähnliches. Ein Teil der Entwicklungsländer könnte profitieren, wenn die Industriestaaten ihre Zollbarrieren für Agrarimporte abbauen würden. Zumindest ist das die Ansicht mancher Regierung, denn natürlich fehlt die für Exportprodukte genutzte Anbaufläche, wenn es um die Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln geht. Und auch von den Exporterlösen kommt für gewöhnlich wenig bei der ländlichen Bevölkerung an. Die muß eher damit rechnen, aufgrund der Mechanisierung, die unumgänglich ist, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können, ihre Einkommensquellen zu verlieren.
Was die Liberalisierung der Agrarmärkte für die Versorgung der Bevölkerung bedeuten kann, hat sich unlängst am Beispiel Indonesiens gezeigt. Das 200- Millionen-Einwohner-Land war in den 80er Jahren Selbstversorger. Mit dem Übergang zur exportorientierten Entwicklung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt und die Grenze für Reisimporte geöffnet. Im Ergebnis nahm die Selbstversorgungsrate rapide ab, da die Kleinbauern der Inselrepublik nicht mit den Weltmarktgrößen mithalten konnten. Als nach Ausbruch der asiatischen Krise die indonesische Rupiah auf ein Zehntel ihres vorherigen Wertes abstürzte, verteuerten sich die Importe entsprechend und damit auch das Grundnahrungsmittel Reis. Heute grassieren auf den Inseln zwischen Sumatra und Neuguinea wieder Hunger und Armut wie zuletzt in den 60er Jahren.
MAI durch die Hintertür
Die im deutschen Forum Umwelt und Entwicklung zusammengeschlossenen Gruppen fordern denn auch, daß nicht über eine weitere Liberalisierung der Agrarmärkte verhandelt wird, sondern diese in bezug auf den Marktzugang in Entwicklungsländern wieder zurückgenommen wird. Besonders in Anbetracht der unsicheren Welternährungslage halten sie die gegenwärtigen Verhandlungen für äußerst bedenklich und verlangen, daß ein so heikles Thema nicht den Marktkräften überlassen werden darf.
Bei der Liberalisierung der Agrarmärkte bilden einige Entwicklungsländer gegenwärtig jedoch zusammen mit den südostasiatischen Schwellenländern, Neuseeland und den USA eine Front gegen Staaten wie Japan, Südkorea und Norwegen, die um die Existenz ihrer Kleinbauern fürchten. Auch für Südostasien ist bereits nachgewiesen worden, daß dort die Kleinbauern zu den Verlierern gehören würden. Allerdings besitzen sie in ihren Ländern wegen Kolonialismus und jahrzehntelanger Diktaturen keine politische Lobby, so daß die Positionen der Regierungen von Plantagenbesitzern dominiert werden.
Die EU ist in der Agrarfrage tief gespalten. In den meisten Ländern würde die von den USA verlangte Marktöffnung und der Subventionsabbau ein Bauernlegen auslösen. Besonders Frankreich gilt daher als Verteidiger der bisherigen Agrarpolitik. In Deutschland sieht eine starke Industrielobby den restriktiven Agrarmarkt eher als einen Hemmschuh bei der Durchsetzung des weltweiten Freihandels an. Die EU wird allerdings in Seattle mit einer Stimme verhandeln, vertreten durch ihren Handelskommissar Pascal Lamy. Marktöffnung komme nur insoweit in Frage, heißt es in einem Positionspapier des Rates der EU-Landwirtschaftsminister, wie auch andere Märkte für europäische Agrarexporte geöffnet werden. Auf einer Pressekonferenz verwahrte Lamy sich gegen den Vorwurf, die EU wolle bis auf den Agrarsektor alles verhandeln. Manches deutet daraufhin, daß sowohl die Europäer als auch die Japaner planen, im Rahmen eines umfassenden Verhandlungspaketes möglichst viele Zugeständnisse für die eigene Landwirtschaft herauszuschlagen.
Hierin liegt denn auch eine weiterer Kritikpunkt verschiedenster Umwelt- und entwicklungspolitischer Gruppen: Daß die ärmeren Länder schon allein aufgrund der Komplexität der Verhandlungen über den Tisch gezogen werden, da sie es sich nicht leisten können, den notwendigen Expertenstab zu beschäftigen. Außerdem verbirgt sich hinter der EU-Forderung nach umfassenden Verhandlungen auch der Wunsch, das zunächst gescheiterte internationale Investitionsschutzabkommen MAI im Rahmen der WTO wiederaufleben zu lassen.
30.11.1999
2.12.1999
Von Wolfgang Pomrehn
In Seattle, USA, begann der zweite Tag der Konferenz der
Welthandelsorganisation WTO mit ersten Arbeitsgruppen-Gesprächen.
In Fragen der Biotechnologie kam es dabei zu Annäherungen. Die EU
stimmte in einem gemeinsamen Arbeitspapier mit Korea, der Schweiz,
Ungarn und der Türkei erstmalig der Einrichtung einer
Arbeitsgruppe zu diesem Thema zu. Unterschiedliche Auffassungen gibt es
allerdings noch über der Zielsetzung. Umweltgruppen
befürchten, dass die Einrichtung einer Arbeitsgruppe den
Interessen der Produzenten gentechnisch manipulierter Pflanzen dienen
wird.
Das Papier war von der EU-Kommission ausgearbeitet worden. Der
britische Umweltminister Michael Meacher streitet allerdings ab, dass
die Regierungen der Mitgliedsstaaten der neuen Position zugestimmt
haben. Zusammen mit seinem französischen, belgischen,
italienischen und dänischen Kollegen formulierte er einen Protest.
Auch in der deutschen Delegation soll sich dem Vernehmen nach Unmut
regen. Agrar-Kommissar Fischler bestand allerdings gegenüber der
Presse in Seattle darauf, dass es im Rat der Wirtschaftsminister eine
„qualifizierte Mehrheit“ für die neue Position gegeben
habe.
Von Umweltgruppen wurde das Nachgeben gegenüber einer alten
Forderung der USA scharf kritisiert. Bisher hatte die EU gefordert,
dass entsprechende Fragen im Rahmen der Konvention zum Schutz der
biologischen Vielfalt behandelt werden müssen. Dort liegt bereits
der Entwurf eines Protokoll über biologische Sicherheit vor, dass
den Mitgliedsländern erlauben würde, die Einfuhr gentechnisch
manipulierter landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu verbieten.
Umweltschützer befürchten, dass die Einrichtung der
Arbeitsgruppe der entscheidende Schritt ist, die WTO-Regularien auch
auf den Gentechniksektor auszudehnen. „Die Einrichtung der
Arbeitsgruppe,“ heißt es bei den Konferenz-Beobachtern vom
deutschen Forum für Umwelt und Entwicklung, „ist absolut
fatal für die Verbraucherinteressen in Europa und die Interessen
der Dritten Welt.“
In Sachen Liberalisierung der Agrarmärkte machte EU-Kommissar
Fischler in Seattle am Mittwoch (Ortszeit) noch einmal klar, dass die
EU darauf besteht, dass nicht über die Abschaffung der
Exportsubventionen, sondern nur über deren Reduktion gesprochen
wird. Damit steht die Gemeinschaft isoliert da. Die USA hatte sich
bereits am Dienstag mit anderen Staaten auf einen Entwurf geeinigt, in
dem die Abschaffung gefordert wird. Sophia Murphy vom US-amerikanischen
Institut für Landwirtschaft und Handelspolitik kritisiert den
Vorschlag der USA, da er keine Vorkehrungen zur Sicherung der
Ernährung vorsieht. Neben vielen anderen warnen auch deutsche
Nichtregierungsorganisationen in Seattle davor, die Welternährung
allein dem Spiel der Marktkräfte zu überlassen.
Widerspruch besteht auch in der Frage, ob landwirtschaftliche
Erzeugnisse vertraglich wie Industriegüter behandelt werden sollen
oder nicht. Die EU besteht auf der sogenannten multifunktionalen
Aufgabe der Landwirtschaft und hofft damit einen Teil ihrer
Agrarsubventionen retten zu können. Gedacht wird unter anderem
daran, Landwirte für umweltschonendes Wirtschaften zu belohnen.
Bei vielen Entwicklungsländern stößt diese Position
allerdings auf wenig Verständnis. Sie befürchten, dass die EU
einfach ihre bisherige Praxis fortsetzen will.
„Multifunktionalität ist ein Witz“, so Henk Campher
vom südafrikanischen Gewerkschaftsverband NACTU.
Auch in der Frage der neuen Themen gibt es wenig Annäherung. Die
EU besteht nach wie vor darauf, dass in der neuen Verhandlungsrunde
über Investitionsschutz gesprochen wird. Zuletzt unterstrich
Wirtschaftsminister Müller diese Position noch einmal in seiner
Rede vor der Konferenz. Eine Mehrheit der Mitgliedsländer lehnt
diese Ansinnen jedoch weiter ab.
Den Entwicklungsländern geht es vor allem um die
Überarbeitung der jetzigen Anti-Dumping-Regeln, in denen sie eine
Form verdeckten Protektionismus sehen. Unterstützung in dieser
Frage haben sie vor allem von Japan. Außerdem werden die
Verlängerung von Anpassungsfristen und die Revision des
Textilabkommens gefordert.
Um die Position der Entwicklungsländer bei Streitfragen vor dem
WTO-Schiedsgericht zu stärken, wurde am Dienstagabend ein Dokument
zur Schaffung eines Rechtsfonds unterzeichnet. Nach Angaben des
WTO-Sekretariats wird er mit sechs bis sieben Millionen Dollar
ausgestattet.
3.12.1999
Von Wolfgang Pomrehn
In Seattle sind die Gespräche über die Eröffnung einer
neuen Verhandlungsrunde zur weiteren Liberalisierung des
internationalen Handels in ernster Gefahr. Auf der dritten
Ministertagung der Welthandelsorganisation, die derzeit in der
US-amerikanischen Hafenstadt tagt, machte sich am dritten
Verhandlungstag Frustration breit. Der britische Handelsminister
Stephen Byers fasste es in den Worten zusammen, die Lage sei
„ziemlich deprimierend“. Vor allem Delegierte aus
Entwicklungsländern beschwerten sich darüber, dass ihre
Anliegen nicht berücksichtigt werden. Auf besondere Kritik
stieß, die mangelnde Transparenz der Verhandlungen. Die Minister
der Organisation für Afrikanische Einheit OAU entschlossen sich
daher am späten Donnerstagabend (Ortszeit) zu einem
ungewöhnlichen Schritt: In einer an die Presse verteilten
Erklärung drohen sie an, dem Arbeitsauftrag und Zeitplan für
die Verhandlungsrunde ihre Zustimmung zu verweigern. Damit wäre
die Seattler Konferenz gescheitert, denn nach den WTO-Regularien
können Beschlüsse nur im Konsens gefasst werden.
Streitpunkt ist, dass viele Entscheidungen nicht in den dafür
vorgesehenen Arbeitsgruppen getroffen werden, die für alle
Delegationen offen sind. Vielmehr finden die wichtigsten Verhandlungen
in kleineren Gruppen statt, von denen die meisten
Entwicklungsländer zumeist ausgeschlossen bleiben. Viele Staaten
haben zudem Probleme, mit ihren vergleichsweise kleinen Delegationen
alle Treffen zu verfolgen und in der komplexen Materie auf dem
laufenden zu bleiben. Dem Vernehmen nach bereiten auch ein Reihe
lateinamerikanischer und karibischer Staaten eine ähnliche
Erklärung vor. Unter anderem heißt es in einer Vorzeitig an
die Öffentlichkeit gelangten Version, dass man wegen der von der
Verhandlungsführung geäußerten Absicht besorgt sei,
einen Resolutionstext um jeden Preis verabschieden zu wollen.
Die Vorsitzende der Verhandlungen, US-Handelsministerin Charlene
Barshefski, stellte am Donnerstag zwar noch einmal heraus, dass sie die
Tagung am Freitagabend um 18 Uhr Ortszeit (3 Uhr MEZ) abgeschlossen
haben will, doch geht hier kaum noch jemand davon aus, dass das Ziel zu
erreichen ist. Wahrscheinlicher ist, dass die Uhr angehalten werden
muss. Hinter den Kulissen machen bereits Gerüchte um einen ganzen
Tag Verlängerung die Runde.
Die Straßen Seattles waren auch am Donnerstag von Demonstrationen
und einem martialischen Aufgebot aus Polizei und Nationalgarde
geprägt. Rund 1000 bis 1500 Kleinbauern aus aller Welt
demonstrierten gegen Liberalisierung, Agro-Business und Gentechnik. Der
französische Bauernführer José Bové rief Bauern
und Umweltorganisationen in aller Welt dazu auf, sich in ihrem Kampf
gegen die Macht der Konzerne in einem ersten Schritt auf die Gentechnik
zu konzentrieren. Ein anderer Protestzug bewegte sich zum
Stadtgefängnis, um die Freilassung von mehreren Hundert
arrestierten zu verlangen. Die Polizei hielt sich am Donnerstag
weitgehend zurück. Am Vortag hatte es allein 100 durch
Plastikgeschosse verletzte Demonstranten gegeben. Mit zur neuen
Besonnenheit der Beamten dürfte die wachsende Kritik an ihren
gewalttätigen Einsätzen geführt haben, die sich in
Leserbriefen und Anrufen beim lokalen Fernsehsender äußert.
5.12.1999
Von Wolfgang Pomrehn
Die Gespräche zur Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde
über die weitere Liberalisierung des internationalen Handels sind
am Freitagabend (Ortszeit) vorerst gescheitert. Die Wirtschaftsminister
der 135 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation WTO konnten sich
in Seattle nicht auf Tagesordnung und Zeitplan einigen.
Widersprüche zwischen der großen Mehrheit der
Entwicklungsländer und den Industriestaaten erwiesen sich als
unüberbrückbar.
Am späten Abend musste die sichtlich erschöpfte
Verhandlungsleiterin, US-Handelsministerin Charlene Barshefsky, vor dem
Abschlussplenum den Misserfolg eingestehen. Die WTO sei mit ihren
bisherigen Strukturen offensichtlich nicht mehr in der Lage, die
komplexen neuen Aufgaben zu bewältigen. Generalsekretär Mike
Moore solle daher in den kommenden Monaten in Gesprächen mit den
Mitgliedern die Reform der bisherigen Prozeduren beraten. Die
Verhandlungen über Landwirtschaft und Dienstleistungen würden
aber auf jeden Fall, wie in den Verträgen vorgesehen, im Januar
beginnen.
Damit ist die vor allem von der Europäischen Union und einigen
anderen Industriestaaten angestrebte umfassende Verhandlungsrunde
vorerst nicht zu Stande gekommen. Die EU hatte vor allem darauf
gedrängt, in Rahmen der WTO ein Investitionsschutzabkommen zu
verankern, wie es zuvor bereits unter dem Namen MAI in der Organisation
für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
diskutiert worden war aber schließlich an erheblichen
öffentlichen Protesten in Frankreich und Kanada scheiterte.
Desweiteren war der EU besonders daran gelegen, eine Verpflichtung zur
internationalen Ausschreibung öffentlicher Aufträge
durchzusetzen.
Nachdem Scheitern der Seattler Verhandlungen kündigte
EU-Agrarkommissar Franz Fischler an, dass man sich an die bereits
gemachten Zugeständnisse in Bezug auf Liberalisierung der
Märkte für landwirtschaftliche Produkte nicht mehr gebunden
fühlt. Die Verhandlungen müssten von vorne beginnen.
Gleichzeitig erinnerte er erneut an die EU-Position, dass nichts
vereinbart ist, bevor es nicht eine umfassende Eingung gibt. Im
Klartext heißt das, dass die EU nur dann zur Öffnung ihrer
Märkte und zum Abbau ihrer Exportsubventionen für
Agrarprodukte bereit ist, wenn die von ihr gewünschte große
Verhandlungsrunde zu Stande kommt und ihre Wünsche dort
erfüllt werden.
Der Fehlschlag in Seattle war vor allem ein Ergebnis des weitgehenden
Ausschlusses der Entwicklungsländer. Alle wesentlichen
Verhandlungen fanden in informellen Gesprächen zwischen kleinen
Gruppen statt, zu denen meist die Leiter der verschiedenen
Arbeitsgruppen die „wichtigsten“ Länder einladen. Eine
Praxis, die bereits im Rahmen der Uruguay-Runde, die der Gründung
der WTO vorausging, gepflegt wurde. Die Entwicklungsländer werden
dabei meist übergangen. So war z.B. zu Gesprächen über
eine Überprüfung des Abkommens zum Schutz Intellektuellen
Eigentums (TRIPS) kein einziges afrikanisches Land eingeladen worden,
obwohl die afrikanischen Staaten vehement Änderungen im TRIPS
fordern. Vor allem verlangen sie, dass das Recht, Lebensformen zu
patentieren, wieder abgeschafft wird.
Während die Entwicklungsländer vor einigen Jahren diese
undemokratische Praxis noch zähneknirschend in Kauf genommen
haben, regte sich diesmal Widerstand. Um so mehr, als die meisten
Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas feststellen müssen,
dass die von der WTO erhofften Vorteile ausbleiben, da die
Industriestaaten ihre Einfuhrzölle und sonstigen Hürden nicht
abbauen. Am Donnerstagabend hatten daher verschiedene Gruppen
afrikanischer, karibischer und südamerikanischer Staaten
angedroht, dass sie angesichts der mangelnden Transparenz und ihres
Ausschlusses von den effektiven Verhandlungen ihre Zustimmung
verweigern könnten.
In den Abschlusserklärungen Barshefskys und Moores war denn auch
davon die Rede, dass die Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten
innerhalb der WTO erhöht werden müssten, bevor eine neue
Verhandlungsrunde eröffnet werden könne. Auch Gruppen der
Zivilgesellschaft sollten einbezogen werden. Was unter Transparenz zu
verstehen ist, bekamen die Journalisten auf der abschließenden
Pressekonferenz demonstriert: Mehrere dutzend Polizisten nahmen mit
Schlagstock und Pistole bewaffnet an den Seiten Aufstellung und
hinderten eine Greenpeace-Vertreterin daran, Pressemitteilungen zu
verteilen.
6.12.1999
Von Wolfgang Pomrehn
Während in Seattle das Gros der fast 600 festgenommenen
Demonstranten am Sonntag freigelassen wurde, beginnt die amerikanische
Presse Bilanz zu ziehen. Fünf Tage haben die meist jungen Leute im
Kreisgefängnis gesessen für „Verbrechen“ wie auf
der Straße sitzen oder weniger. Gegen gerade ein Dutzend hat die
Staatsanwaltschaft genug in der Hand, um ihnen schwerere Delikte
vorzuwerfen. Die Freigelassenen berichten von Mißhandlungen in
der Haft. Von Schlägen ist die Rede, dem Einsatz der chemischen
Keule und Isolierung in speziellen Einzelhaft-Strafzellen. Eine
Anwaltsvereinigung hilft den Betroffenen, Klagen gegen die
Gefängnisverwaltung vorzubereiten.
Unterdessen fragen hiesige Journalisten, ob US-Präsident Bill
Clinton den Eklat auf der WTO-Ministerkonferenz vielleicht bewusst
herbei geführt, oder zumindest billigend in Kauf genommen hat.
Einiges spricht dafür. Clinton war kaum in der Stadt angekommen,
da ließ er die Minister schon über Zeitungsinterviews
wissen, dass die Aufnahme von Sozial- und Umwelt-Klauseln in die
WTO-Verträge für ihn unabdingbar ist.
Das musste wie Sand im Verhandlungsgetrieb wirken, schließlich
war die hartnäckige Ablehnung dieser Forderung durch eine
geschlossene Front der Entwicklungsländer seit langem bekannt. Und
diese Länder waren vom bisherigen Verhandlungsverlauf durch den
Ausschluss von wichtigen Gesprächen und die tauben Ohren, auf die
sie allenthalben trafen, schon frustriert genug.
Beim Internationalen Bund Freier Gewerkschaften, dem auch der deutsche
DGB angehört, und dem US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband
AFL/CIO fanden Clintons Äußerungen hingegen reichlich
Applaus. Das, so meinen hiesige Analysten, sind denn auch die
eigentlichen Adressaten Clintons gewesen. Im nächsten Jahr sind in
den USA Präsidentschaftswahlen und Clintons Wunschkandidat Al
Gore, der jetzige Vize, ist auf die Stimmen der Gewerkschafter
angewiesen. Der AFL/CIO hat bereits angekündigt, dass er Gores
Kampagne materiell und personell unterstützen wird. Der Preis,
machten führende Funktionäre in Seattle wiederholt deutlich,
sind die Sozial-Klauseln.
Die Frage ist allerdings, was dieser Preis wert ist. Auf jeden Fall
geben die Gewerkschaften, die auch in Europa lautstark für
Sozial-Klauseln werben, die Solidarität mit den Ländern des
Südens auf. Die fühlen sich nämlich an die Seite
gedrängt. Wenn immer sie auf die Probleme hinweisen, die sie mit
den bestehenden Verträgen haben, antworten ihnen die USA und die
EU mit Sozial-Klauseln. Vor allem die EU nutzt die Diskussion um die
Klauseln auch, um die Tagesordnung für neue Themen zu öffnen.
Aus diesem Grunde sind auch die meisten
Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften aus dem Süden
gegen diese Forderung, da sie zuerst die Nachteile beseitigt haben
wollen, unter denen ihre Länder leiden. Vor allem verlangen sie,
dass der Norden endlich seine Grenzen nennenswert für Produkte aus
dem Süden öffnet. Angesichts der immer noch hohen Zölle
für ihre Waren und vor allem angesichts des häufigen
Rückgriffs auf Anti-Dumpingmaßnahmen halten sie die Klauseln
für maskierten Protektionismus.
Nur fünf Länder haben in Seattle die Position Washingtons und
Brüssels unterstützt: Die Schweiz, Ungarn, Chile,
Südkorea, wo derzeit rund 400 Gewerkschafter in den
Gefängnissen sitzen, und die Türkei, die in Kurdistan
Gewerkschafter foltern läßt. Das allein sagt eigentlich
schon alles.
Amerikanische und europäische Gewerkschaften täten besser
daran, sich um die Folgen der Exportpolitik ihrer Staaten für
andere Länder zu kümmern. Nicht selten schafft diese erst die
Bedingungen, die den Arbeitsmarkt mit Menschen überschwemmt, die
gezwungen sind, Arbeit zu den schlechtesten Bedingungen anzunehmen. Ob
in Polen, Mexiko oder auf den Philippinen: Wo immer Staaten ihre
Grenzen für die Waren der großen Handelsmächte
öffnen (müssen), verderben die reichlich subventionierten
Agrarexporte der EU und der USA den Kleinbauern die Preise und
zerstören deren Existenzen. Die logische Folge: Die Bauern
müssen ihr Land aufgeben, ziehen in die Städte und
drängen als Billigst-Arbeitskräfte auf den Markt. An diesen
simplen ökonomischen Fakten wird auch keine noch so schön
formulierte Sozialklausel etwas ändern.
6.12.1999
Übersichtsartikel
Aus der Seattle-Runde wird nichts. Am Freitag vergangener Woche sind
in der nordwestamerikanischen Hafenstadt die Gespräche zur
Vorbereitung eines neuen Verhandlungsmarathons für einen Ausbau
des Regelwerks der Welthandelsorganisation WTO geplatzt. Der tiefe
Graben zwischen Industristaaten und Entwicklungsländern konnte
nicht überbrückt werden. Letztere wehrten sich insbesondere
gegen die Aufnahme neuer Themen in den Verhandlungskatalog. Erst
müsse der Norden seinen Verpflichtungen im Bezug auf Erleichterung
des Marktzugangs nachkommen. Zunächst müssten die bestehende
Verträge überarbeitet werden, um Nachteile für die
Länder des Südens auszubügeln, fordern die in der Gruppe
der 77 und China zusammen geschlossenen Staaten. Erst dann könne
die vor allem von der Europäischen Union favorisierte
Millenium-Runde eröffnet werden. Unberührt von dem Desaster
in Seattle bleiben Verhandlungen über die Liberalisierung des
Agrarmarktes und Fragen des Dienstleistungsverkehrs. Sie sind bereits
in den WTO-Gründungsverträgen vorgesehen und werden wie
vereinbart im Januar beginnen.
Pech vor allem für die EU. Nachdem im Herbst 98 das Multilaterale
Abkommen über Investitionsschutz (MAI) in der OECD gescheitert
war, setzt sie darauf, entsprechende Regeln innerhalb des
WTO-Vertragswerks festzuschreiben. Ein besonderes Anliegen ist es ihr
dabei auch, die internationale Ausschreibung öffentlicher
Aufträge zwingend zu machen. EU-Agrarkommissar Franz Fischler
ließ allerdings durchblicken, dass man in den Agrarverhandlungen
mauern werde, solange die neue Runde nicht zu Stande kommt. An die in
den bisherigen Verhandlungen gemachten Zugeständnisse würde
man sich nicht mehr gebunden fühlen, denn es bleibe dabei, dass
nichts vereinbart ist, solange nicht ein umfassendes Paket
geschnürt ist.
Der Hintergrund der europäischen Bemühungen um ein neues MAI
unter anderem Namen ist, dass sich seit Mitte der 80er die
ausländischen Direktinvestitionen weltweit verachtfacht. Seit etwa
vier Jahren hat sich das Zuwachstempo noch ein mal drastisch
erhöht. Der überwiegende Teil der Kapitalflüsse findet
immer noch zwischen den Industriestaaten statt, die damit ihre
gegenseitige ökonomische Durchdringung weiter vorantreiben, aber
die Investitionen in Entwicklungsländern und in Mittel- und
Osteuropa wachsen wesentlich schneller. Die EU, deren Länder zu
den größten Kapitalexporteuren gehören und
zusammengenommen die USA erheblich überrunden, möchte ihre
Auslandserwebungen besser abgesichert haben.
Ein Problem, das den Entwicklungsländern nicht gerade auf den
Nägeln brennt. Die haben eher damit zu kämpfen, dass sie
bisher vergeblich auf die Früchte der WTO-Verträge warten.
Während sie ihre Grenzen mehr und mehr für Importe und
Unternehmen aus dem Norden öffnen, sind USA und EU sehr
zögerlich, wenn es um den Marktzugang für Produkte aus dem
Süden geht. Erleichterungen würden oftmals an politische
Bedingungen geknüpft, wirft die Gruppe der 77 und China dem Norden
vor. Namentlich die Antidumping-Regeln der WTO würden benutzt, um
Importen aus Entwicklungsländern die Tür zu versperren, und
müßten daher überarbeitet werden. Insbesondere gilt das
für den textilsektor, der eigentlich durch eine schrittweise
Anhebung der Einfuhr-Quoten hätte liberalisiert werden sollen. In
den fünf Jahren des Bestehens der WTO haben jedoch die
Entwicklungsländer in diesem Bereich ihre Exporte in den Norden
nicht nennenswert ausbauen können. Es existiere eine beachtliche
Inbalance zu Ungunsten der Entwicklungsländer im Bezug auf die
Rechte und Pflichten.
Angesichts dessen ist man in Delhi oder Daressalam, in Jakarta oder
Johannesburg mehr als skeptisch wenn die reichen Länder mit
Sozial- und Umweltklauseln kommen, die sie in die Verträge
aufgenommen haben wollen. Die G77 und China vermutet dahinter vor allem
neue Formen protektionistischer Abschottung. Auch verhandlungstaktische
Gründe spielen bei der Ablehnung eine Rolle: „Wir sind im
Prinzip durchaus für Sozialklauseln“, meint z.B. Henk
Campher vom südafrikanischen Gewerkschaftsverband NACTU.
„Wir befürchten jedoch, dass sie die Verhandlungen von den
Punkten ablenkt, die für unsere Länder vor allem auf dem
Programm stehen: Landwirtschaft und Dienstleistungen.“
Die Verhandlungsführung Washingtons und Brüssels scheint ihm
da durchaus Recht zu geben: Während auf die Forderung der
Entwicklungsländer kaum ernsthaft eingegangen wurde, machten
sowohl US-Präsident Clinton als auch die EU-Kommission massiven
Druck für die Aufnahme der Klauseln in den Verhandlungskatalog.
EU-Handelskommissar Pascal Lamy erklärte sie im Vorfeld der
Konferenz sogar zu einem möglichen Stolperstein. Offenbar ist man
beiderseits des Atlantiks bemüht, aufkeimenden Unmut über der
Gewerkschaften die nachteiligen Auswirkungen der Globalisierung
für Arbeiter aufzugreifen. Man gibt ihnen damit das Gefühl,
gehört zu werden und benutzt sie gleichzeitig als Druckmittel
gegen die Entwicklungsländer, um denen im Verhandlungspoker mehr
Zugeständnisse abzuringen.
Die erhofft sich die EU nicht nur in Sachen ihres MAI-Clones sondern
auch in der Agrarpolitik. Hier möchte sie nicht auf ihre
Exportsubventionen verzichten, sonder erklärt sich bestenfalls zur
Senkung bereit. Die Entwicklungsländer verlangen hingegen, dass
der Agrarmarkt in die normalen WTO-Regularien einbezogen wird, was
einen Abbau der Handelshemmnisse und Subventionen bedeuten würde.
Einige Staaten, die zur sogenannten Cairns-Gruppe gehören, wie die
Philippinen, Malaysia, Indonesien und Brasilien, verlangen gar eine
vollständige Liberalisierung. Bei den Verhandlungen um
Dienstleistung wird vor allem Reisefreiheit für Bürger aus
dem Süden gefordert.
Auch die Entwicklungsländer, wurde in Seattle deutlich, sprechen
sich durchaus für eine Liberalisierung des Welthandels aus, sofern
diese der Entwicklung ihrer Staaten dient. Die Proteste in Seattle
stießen daher bei manchem Delegierten aus dem Süden eher auf
Unverständnis. „Sicher“, so ein Mitglied der
südafrikanischen Delegation, „die Multis dominieren in der
WTO. Aber wir brauchen internationale Regeln, denn ohne diese wäre
die Herrschaft der Konzerne noch viel schlimmer.“
Der Eklat in Seattle wurde vor allem durch einen Mangel an Transparenz
und Mitspracherechten für Entwicklungsländer verursacht. Wie
bereits in der Uruguay-Runde, die der WTO-Gründung vorausgegangen
war, fanden auch in Seattle die wichtigsten Verhandlungen in kleinen
Gruppen hinter verschlossener Tür statt. Die ärmeren
Länder, die sich meist nur kleine Delegationen leisten konnten,
hatten Schwierigkeiten, überhaupt auf dem Laufenden zu bleiben und
fanden sich oft ausgeschlossen. Zu Gesprächen über das
Abkommen für den Schutz intellektuellen Eigentums (TRIPS) war z.B.
kein einziges afrikanisches Land eingeladen worden. Das traf bei diesen
auf besondere Empörung, da sie gemeinsam die Änderung des
TRIPS-Artikels 27 (3b) fordern, damit künftig Patente auf
Lebensformen nicht mehr möglich sind. Als eine Konsequenz aus dem
Debakel erhielt WTO-Generalsekretär Mike Moore den Auftrag, mit
den Mitgliedsländern über eine Reform der WTO-Strukturen zu
beraten, bevor neue Gespräche über eine Millenium-Runde
aufgenommen werden.
Während sich Regierungen und soziale Bewegungen der
Entwicklungsländer in der Kritik an der Verhandlungsführung
in Seattle einig waren, gingen in anderen Fragen die Meinungen weit
auseinander. Besonders bei der Agrarpolitik wurde das deutlich.
Länder wie die Philippinen vertreten hier vor allem die Interessen
des heimischen Agro-Business, dass für den Exportmarkt produziert
und die Kleinbauern verdrängt. Rafael V. Mariano von der
Bauernbewegung der Philippinen KMP berichtete in Seattle, wie die
Marktöffnung in vielen Ländern die Nahrungsmittelversorgung
untergraben hat. In Indien sei die Anbaufläche für die
Grundversorgung mit der Liberalisierung zurückgegangen. Mexiko
habe vor dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen
20% seiner Lebensmittel importiert. 1996 waren es bereits 43%. Auch in
den Philippinen würden die Reisimporte rapide zunehmen und den
Bauern, die den heimischen Bedarf noch vor wenigen Jahren
vollständig decken konnten, die Preise kaputt machen. Die Folge:
Wachsende Armut auf dem Land. Immer mehr Bauern seien gezwungen, sich
bei Großgrundbesitzern als Landarbeiter zu verdingen. Dort
verdienen sie oftmals nur 60 bis 90 Pesos pro Tag (ca. 3 bis 5 DM).
Der nordamerikanische Agro-Konzern Cargil, berichtet Mariano weiter,
verkauft Mais auf dem philippinischem Markt zu einem Preis, der nur die
Hälfte der Produktionskosten örtlichen Bauern beträgt.
Der Mais komme allerdings von Landwirten, die dafür in den USA pro
Jahr 29000 Dollar an Subventionen bekommen, mehr, als ein
philippinischer Maisbauer in seinem ganzen Leben verdienen könne,
rechnet der KMP-Vorsitzende vor. Für den asiatischen Inselstaat
hat das verheerende Auswirkungen: Das Landwirtschaftsministerium
schätzt, dass 1998 150000 Tonnen Mais auf den Feldern verrotteten,
weil sich die Ernte nicht lohnte.
Doch Manila denkt nicht daran, seine Kleinbauern zu unterstützen.
Während es für sie keinerlei Subventionen gibt, wird der
großflächige Anbau von Exportprodukten mit Steuererlassen
und Infrastrukturprogrammen gefördert. Präsident Estrada will
sogar die Verfassung ändern, um ausländischen Gesellschaften
den hundertprozentigen Erwerb von landwirtschaftlichem Boden zu
ermöglichen. 80000 Bauern demonstrierten am 21. Oktober dagegen.
Ihr Verband, der KMP, fordert daher, dass der Agrarsektor wieder aus
dem WTO-Paket herausgenommen wird. Eine Forderung, die die in Seattle
versammelten Bauernorganisationen teilten. Auf einem Forum zu Fragen
von Landwirtschaftspolitik und Ernährungssicherung waren sich
Kleinbauern aus Frankreich, Lateinamerika, Indien, Bangladesch, Kanada
und den USA einig, dass man künftig international zusammenarbeiten
müsse. Wenn also im Januar in Genf die Verhandlungen über
eine weitere Liberalisierung des Agrarmarktes beginnen, ist sicherlich
mit Bauernprotesten rund um den Globus zu rechnen.
Wolfgang Pomrehn